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Bundespräsident Roman Herzog ruft zu einer Reform des deutschen Bildungssystems auf (5. November 1997)

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Zum ersten: Ich wünsche mir ein Bildungssystem, das wertorientiert ist.

Ich weiß sehr wohl, daß jede Art von Wertekatalog seit Jahren unter den Ideologieverdacht fällt, zumindest wenn er sich nicht auf Allgemeinplätze zurückzieht. Aber Bildung darf sich nicht auf die Vermittlung von Wissen und funktionalen Fähigkeiten beschränken! Zur Persönlichkeitsbildung gehört neben Kritikfähigkeit, Sensibilität und Kreativität eben auch das Vermitteln von Werten und sozialen Kompetenzen. Dabei denke ich durchaus auch an die Vermittlung von Tugenden, die gar nicht so altmodisch sind, wie sie vielleicht klingen: Verläßlichkeit, Pünktlichkeit und Disziplin, vor allem aber der Respekt vor dem Nächsten und die Fähigkeit zur menschlichen Zuwendung.

Wir sollten uns auch die Zusammenhänge bestimmter Werte stärker bewußtmachen: Toleranz kann es nur geben, wo es auch einen eigenen Standpunkt gibt. Eine Auseinandersetzung mit fremden Denk- und Wertesystemen setzt das Wissen über die eigene Herkunft und die eigenen prägenden Traditionen voraus. Andere Kulturkreise nehmen das kreative Potential unserer auf die Freiheit setzenden abendländischen Gesellschaft viel bewußter wahr als wir selbst. Hier liegen unsere Stärken, die wir nicht geringschätzen sollten. Wir müssen unseren Kindern aber auch vermitteln, daß Freiheit ohne Ziele Orientierungslosigkeit ist und daß Individualismus ohne Solidarität kein Gemeinwesen begründen kann.

Wir brauchen also den Mut, erzieherische Werte wieder offensiver in den Unterricht einzubauen. Zugleich müssen sich unsere Bildungsinstitutionen wieder darauf besinnen, daß man Leistung nicht fördern kann, ohne sie auch zu fordern. Das setzt freilich das Bewußtsein aller voraus, daß es im Leben ohne Anstrengung nicht geht. Wenn wir uns als Bildungsziel darauf verständigen können, junge Menschen auf ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung vorzubereiten, reicht dafür kein „Laissez-faire”, sondern wir müssen schon auch deutlich machen, daß Freiheit anstrengend ist, weil eben jeder die Ergebnisse seiner Freiheit zunächst selbst verantworten muß.

Kurz: Wir brauchen eine neue Kultur der Selbständigkeit und Verantwortung! Und beides kann nicht durch abstrakte Theorie vermittelt werden, sondern nur durch das täglich gelebte Beispiel von Eltern, Lehrern und Erziehern.

Ich wünsche mir — zweitens — ein Bildungssystem, das praxisbezogen ist.

Das heißt nicht, einem „Bildungsmaterialismus” das Wort zu reden, bei dem es nur um vordergründig verwertbares Wissen für die Wirtschaft geht. Aber mich beeindruckt die Klage, daß bis zu fünfzehn Prozent der Lehrstellenbewerber nicht ausbildungsfähig seien, und das nicht zuletzt, weil ihnen die erforderlichen Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen fehlen. Und mich beunruhigt, daß ein beträchtlicher Teil unserer Hochschulabsolventen keinen der Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz findet.

Ich verstehe sehr wohl, daß bei der heutigen Spezialisierung von Wirtschaft und Verwaltung keine Ausbildung alles vermitteln kann, was ein junger Mensch auf seinem ersten Arbeitsplatz braucht, und daß daher betriebliche Einweisung unvermeidlich bleiben wird. Aber deshalb darf die Bildungsphase eines Menschen doch nicht vollständig von der Lebenswirklichkeit abgekoppelt sein. Manchmal verrät ja schon ein Blick in die Schulbücher, daß die Realität davon meilenweit entfernt ist. Schulbildung bereitet oft auf andere Fächer und Bildungswege, nicht unbedingt aber auf die Lebenspraxis vor.

Nicht jedes Schulfach muß ein akademisches Propädeutikum sein. Physik für Physiker und Linguistik für Linguisten gibt es an den Universitäten genug. In einer Welt, die sich immer mehr in kleine Fachwelten aufsplittert, in denen Eingeweihte und Experten im jeweils eigenen Jargon kommunizieren, sollten wir nicht noch einer allzu frühen Spezialisierung Vorschub leisten. Die Palette unserer Pflichtschulfächer muß also breit bleiben, oder besser: wieder breiter werden. Das heißt aber nicht, daß auf alle Schüler noch mehr stofflicher Inhalt zukommen wird. Im Gegenteil: Es geht darum, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren und allen ein breites Grundwissen zu vermitteln, ob sie nun später Rechtsanwalt, Arzt, Techniker oder Polizeibeamter werden wollen.

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