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50 Jahre Grundgesetz (28. Mai 1999)

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Ich habe dieses gemeinsame Gespräch mit Ost- und Westdeutschen immer wieder gesucht, und ich rechne die Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, zu den bewegendsten meiner Amtszeit.

Die wichtigste Erfahrung aber war für mich immer, wie der Weg zum gegenseitigen Verständnis erst durch rückhaltlose Offenheit und Wahrhaftigkeit geöffnet wurde, auf beiden Seiten. Verschleiernde Schlagworte, gleich ob sie gut oder böse gemeint sind, bringen da gar nichts. Ich wollte, das hätten alle begriffen. Wiederum auf beiden Seiten.

Zur heutigen Gestalt Deutschlands haben viele beigetragen. Ich will hier nur ganz weniges nennen: den Willen Konrad Adenauers, die alte Bundesrepublik fest in der westlichen Gemeinschaft zu verankern, die Bereitschaft Kurt Schumachers, diesen Weg aus der Opposition heraus konstruktiv zu begleiten, den Brückenschlag nach Osten durch Willy Brandt und die Vollendung der staatlichen Einheit durch Helmut Kohl. Ich erinnere an die Integration von Millionen Vertriebener, den Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft aus den Trümmern des Krieges. Ich erinnere an die historische Aussöhnung mit Israel. Ich erinnere an die ungezählten Ostdeutschen, die sich unter einem immer fragwürdiger werdenden System ihre Unabhängigkeit erhalten haben, und an die Bürgerrechtler, deren Freiheitswille dieses System schließlich ins Wanken brachte.

Aber auch die Demokratisierung unserer Gesellschaft gehört zu den großen, das Gesicht unseres Landes bestimmenden Leistungen. Und dabei ging es nicht nur um das Wirken von Politikern. Das Selbstgefühl unserer Gesellschaft ist auch mit vielen anderen Namen verknüpft; aus dem Journalismus ebenso wie aus dem Geistesleben, der Kunst und der Publizistik. Eine Gesellschaft lebt niemals nur aus Staat und Politik. Die großen Entwicklungen führt sie selbst, als Ganzes, herbei. Wir haben auch das erlebt, in Ost und West und oft in heftigen Auseinandersetzungen. Aber es hat uns gut getan.

Vor der Gründung der Bundesrepublik standen, wie schon gesagt, bittere Erfahrungen: Erfahrungen des Krieges, des Holocaust, der Verachtung von Menschenwürde und Menschenfreiheit. Wir hatten in den schlimmsten Abgrund unserer Geschichte geblickt und diese Erlebnisse waren tief in das Denken der Gründergeneration eingebrannt. Aber die Zeiten ändern sich. Immer weniger Menschen kennen die Zeit des Krieges und gar die Zeit vor dem Krieg noch aus eigener Erfahrung, die Architekten des Wiederaufbaus treten ab. Und der Generationswechsel läßt nicht nur die Zeitzeugen des Holocaust allmählich verstummen. Es verblassen auch die Erfahrungen von Verfolgung und Massenmord, von Kriegen und Vertreibungen, von durchlittenen Bombennächten, von Sprech- und Denkverboten. Auch diese Erfahrungen haben das Denken einer ganzen Generation stärker geprägt, als es die Fernsehbilder von heute je können werden. Also müssen sie so gut wie möglich an die kommenden Generationen weitergegeben werden. Das ist unsere Pflicht vor der Geschichte.

Ich weiß, wie schwer das ist: Mit den Generationen verändern sich Wahrnehmungen und Erinnerungen. Schon die zehn Jahre seit dem Mauerfall sind im Leben eines heute 30jährigen eine unendlich lange Zeit, und erst recht haben die Jahrzehnte seit den Anfängen der Bundesrepublik vieles im kollektiven Bewußtsein der Nation verändert: Aus erlebter Vergangenheit beginnt Geschichte zu werden. Die Nachfolgegeneration hat längst politische Verantwortung übernommen, und schon steht eine ganz junge Generation in den Startlöchern, mit wieder ganz anderen Lebensentwürfen, einer anderen Diskussionskultur, mit völlig neuen Fragen und anderen Antworten. Das ist der Natur des Menschen gemäß, und niemand von uns Älteren sollte sich darüber entrüsten. Aber das müssen wir einfordern: daß unsere Erfahrungen, und nicht zuletzt die aus Irrtümern und Fehlern gewonnenen Erfahrungen, von den nach uns Kommenden zur Kenntnis genommen werden. Sie können sich damit unter Umständen vieles ersparen. Und das ist eine Aufgabe, von der niemand Dispens hat: weder Eltern noch Lehrer, weder Schulbuchautoren noch Journalisten, weder Politiker noch Kirchen. Nur so entsteht kollektive Erinnerung und ohne die gibt es weder nationale Identität noch nationale Verantwortung.

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