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„Da war mir klar: Ich mußte Flüchtling werden” (19. März 1953)

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Es muß ein System vorhanden sein. Aber wo faßt man es? Wo ist der Zugang zu dem Geheimnis, daß jetzt so viele Bauern aus der Sowjetzone fliehen? Panik kann’s nicht sein. Da lehnt am Vorgartenzaun in der Kuno-Fischer-Straße ein Bauer, der nicht aussieht, als ob man ihm Angst einjagen könnte. Hakennase, energisches Gesicht. Er trägt Jägerhut und Lodenmantel; neben ihm steht eine Aktentasche. So sah ich ihn an drei aufeinanderfolgenden Tagen und wechselte jedesmal ein paar Worte mit ihm.

»Das System ist«, sagt er, »die mittleren Bauern kaputt zu machen.« – »Sind Sie ein mittlerer Bauer?« – »Ich habe einen Hof von 100 Morgen. Als ich aus dem Krieg heimkam, war vieles in Unordnung, aber zuerst ging alles glänzend. Die Bauern wurden reich. Der Zentner Raps brachte 3000 Mark, der Zentner Weizen 1000 Mark. Die Menschen hungerten, den Bauern ging es gut. Je mehr man dann vom Aufstieg sprach, desto schlechter ging es den Bauern. Im vorigen Jahr fing das Kesseltreiben gegen die sogenannten Großbauern an. Die kleinen Bauern, die weniger als zehn Hektar bestellen, haben heute pro Morgen drei bis vier Zentner Korn abzuliefern, die größeren Betriebe 40 Zentner pro Morgen. Das hält keiner aus.« – »Ist es wahr, daß die Produktionsgenossenschaften, die Kolchosen, ein geringeres Ablieferungssoll haben?« – »Ein weit geringeres Soll, 20 Prozent!« – »Wenn man also wirklich von der Kolchose, von dem zusammengeworfenen Großbetrieb prozentual weniger verlangte als vom mittleren Bauern – wie ist das möglich? Welches Interesse besteht dann eigentlich, Kolchosen zu schaffen?« – »Es ist das Prinzip. Und das Prinzip ist heilig.«

»Was werden Sie im Westen tun?« – »Landarbeiter werden.« – »Hätten Sie das nicht auch in der Sowjetzone haben können?« – »Nein, eben nicht«, sagte der Landwirt und wird erregt. »Was glauben Sie? Was denkt ihr heute im Westen? Glaubt ihr wirklich, ein Bauer verließe seinen Hof, sein Land, sein Haus, wenn’s nicht Not hätte, höchste Not? Ein Bauer? Ich wollte gern als Arbeiter, als Enteigneter daheim leben, wie gern! Aber es ist keine Wahl. Ich bin nicht vor der Enteignung davongelaufen, sondern vorm Zuchthaus. Es gilt doch dies schreckliche Gesetz: Enteignet werden kann nur, wer ›Sabotage‹ trieb. Wer aber ›Sabotage‹ trieb, wird mit wenigstens fünf Jahren Zuchthaus bestraft. Flucht oder Zuchthaus – das war die Wahl für alle Bauern, die Sie hier jetzt in der Kuno-Fischer-Straße sehen.« – »Ja, trieben Sie und trieben alle die Tausenden von Bauern denn Sabotage?« – Der Bauer sieht mich fassungslos an, fassungslos über so viel westliche Dummheit. »Es ist ein und dieselbe Litanei«, sagt er. »Ihr im Westen ruft uns auf, doch ja zu bleiben und deutschen Boden zu bewahren. Und ihr warnt uns: Westdeutschland sei überfüllt. Aber was glaubt ihr, wie die Möglichkeiten der Entscheidung liegen? Die Berliner wissen Bescheid, auch manche Amerikaner. Ihr kriegt einen Schrecken, wenn plötzlich neue Flüchtlinge in Strömen kommen und bitten, schreien, flehen: ›Helft uns!‹ Anders die Westberliner. Ich würde gern in Berlin bleiben. Aber was soll ich hier? Ein Bauer auf Asphalt? Ich warte nur hier ...« – »Worauf?« – »Auf meine Frau und meine Tochter. Ich stehe von morgens bis abends hier am Zaun und warte.« – »Kommen sie noch?« – »Hoffentlich ...«

Anderen Tages. Er wartet, er kauft vom »Fliegenden Händler« eine Apfelsine, vom »Wurscht-Maxe« eine Bockwurst; davon lebt er. Und er erzählt alles nacheinander: »Nach dem Kriege funktionierten die landwirtschaftlichen Maschinen noch. Als sie kaputt gingen – wer reparierte sie? Die Fabriken liegen alle in Westdeutschland. Die Handwerker, die noch Ersatzteile besaßen, verlangten Überpreise. Wie sollte man sie bezahlen? In Westdeutschland zahlt man den Landwirten das Doppelte der Vorkriegspreise; wir in der Zone erhalten die gleichen Preise wie zur Vorkriegszeit, aber wir zahlen dreifache Löhne. Damit fing das Unglück an. Stets und ständig wurde das Ablieferungssoll erhöht. Maschinen kaputt, Pferde überanstrengt. Schließlich lieferte ich den Hafer ab, mit dem ich die Pferde hätte füttern müssen. Da haben Sie so eine Klemme: Gab ich den Hafer nicht her, war ich Saboteur. Fütterte ich die Pferde nicht, würde ich im Frühjahr nicht die Äcker bestellen können.

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