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Rosa Luxemburg, „Rede zum Programm” (30. Dezember 1918)

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Nachdem von Marx und Engels nach den Enttäuschungen der Revolution von 1848 der Standpunkt aufgegeben wurde, daß das Proletariat unmittelbar, direkt in der Lage sei, den Sozialismus zu verwirklichen, entstanden in jedem Lande sozialdemokratische, sozialistische Parteien, die einen ganz andern Standpunkt einnahmen. Als unmittelbare Aufgabe wurde erklärt der tägliche Kleinkampf auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete, um nach und nach erst die Armeen des Proletariats heranzubilden, die berufen sein werden, wenn die kapitalistische Entwicklung heranreift, den Sozialismus zu verwirklichen. Dieser Umschwung, diese völlig andere Basis, auf die das sozialistische Programm gestellt wurde, hat namentlich in Deutschland eine sehr typische Form erhalten. In Deutschland war ja für die Sozialdemokratie bis zu ihrem Zusammenbruch am 4. August das Erfurter Programm maßgebend, in dem die sogenannten nächsten Minimalaufgaben auf dem ersten Plan standen und der Sozialismus nur als der Leuchtstern in der Ferne, als das Endziel hingestellt wurde. Es kommt aber alles darauf an, nicht, was im Programm geschrieben steht, sondern wie man das Programm lebendig erfaßt; und für diese Auffassung des Programms war maßgebend eine wichtige geschichtliche Urkunde unserer Arbeiterbewegung, nämlich jene Vorrede, die Friedrich Engels im Jahre 1895 zu den »Klassenkämpfen in Frankreich« geschrieben hat. Parteigenossen, ich gehe auf diese Fragen ein nicht aus bloßem historischem Interesse, sondern es ist eine rein aktuelle Frage und eine historische Pflicht, die vor uns steht, indem wir unser Programm heute auf den Boden stellen, auf dem einst 1848 Marx und Engels standen. Mit den Veränderungen, die die historische Entwicklung inzwischen herbeigeführt hat, haben wir die Pflicht, ganz klar und bewußt eine Revision vorzunehmen gegenüber der Auffassung, die in der deutschen Sozialdemokratie bis zum Zusammenbruch am 4. August maßgebend war. Diese Revision soll hier offiziell vorgenommen werden.

[ . . . ]

Parteigenossen, diese erste Phase vom 9. November bis zu den letzten Tagen ist charakterisiert durch Illusionen nach allen Seiten hin. Die erste Illusion des Proletariats und der Soldaten, die die Revolution gemacht haben, war: die Illusion der Einigkeit unter dem Banner des sogenannten Sozialismus. Was kann charakteristischer sein für die innere Schwäche der Revolution des 9. November als ihr erstes Ergebnis, daß an die Spitze der Bewegung Elemente getreten sind, die zwei Stunden vor Ausbruch der Revolution ihr Amt darin erblickt haben, gegen sie zu hetzen,

(sehr richtig!)

sie unmöglich zu machen: die Ebert-Scheidemann mit Haase! Die Idee der Vereinigung der verschiedenen sozialistischen Strömungen unter dem allgemeinen Jubel der Einigkeit, das war das Motto der Revolution vom 9. November, – eine Illusion, die sich blutig rächen sollte und die wir erst in den letzten Tagen ausgelebt und ausgeträumt haben; eine Selbsttäuschung auch auf seiten der Ebert-Scheidemann und auch der Bourgeois – auf allen Seiten. Ferner eine Illusion der Bourgeoisie in diesem abgeschlossenen Stadium, daß sie vermittels der Kombination Ebert-Haase, der sogenannten sozialistischen Regierung, in Wirklichkeit die proletarischen Massen im Zügel halten und die sozialistische Revolution werde erdrosseln können, und die Illusion auf seiten der Regierung Ebert-Scheidemann, daß sie mit Hilfe der soldatischen Massen von den Fronten die Arbeitermassen in ihrem sozialistischen Klassenkampfe niederhalten könnte.

Das waren die verschiedenartigen Illusionen, aus denen sich auch die Vorgänge der letzten Zeit erklären lassen. Sämtliche Illusionen sind in nichts zerronnen. Es hat sich gezeigt, daß die Vereinigung von Haase mit Ebert-Scheidemann unter dem Schilde des »Sozialismus« in Wirklichkeit nichts anderes bedeutete als ein Feigenblatt auf eine rein konterrevolutionäre Politik, und wir haben erlebt, daß wir von dieser Selbsttäuschung geheilt wurden wie in allen Revolutionen. Es gibt eine bestimmte revolutionäre Methode, das Volk von seinen Illusionen zu kurieren, diese Kur wird aber leider mit dem Blute des Volkes erkauft. Genau wie in allen früheren Revolutionen so auch hier. Es war das Blut der Opfer in der Chausseestraße am 6. Dezember, es war das Blut der gemordeten Matrosen am 24. Dezember, das die Erkenntnis und die Wahrheit für die breiten Massen besiegelt hat: was ihr da zusammengeleimt habt als eine sogenannte sozialistische Regierung, ist nichts anderes als eine Regierung der bürgerlichen Konterrevolution, und wer diesen Zustand weiter duldet, der arbeitet gegen das Proletariat und gegen den Sozialismus. (Applaus)

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