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Der Harrison-Bericht (September 1945)

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V. WEITERE KOMMENTARE

Obwohl ich den Auftrag erhielt, über die Bedingungen zu berichten, wie ich sie vorfand, sei das Folgende hinzugefügt, um das Bild zu vervollständigen:

(1) Die Besatzungsarmeen in Deutschland und Österreich sahen sich einer gigantischen Aufgaben gegenübergestellt: so viele wie möglich von den mehr als sechs Millionen Displaced Persons, die in diesen Ländern vorgefunden wurden, in ihre Heimat zurückzuführen. Weniger als drei Monate nach dem V-E-Day („Victory in Europe-Day“), sind mehr als vier Millionen dieser Menschen repatriiert worden – eine phänomenale Leistung. Der erste Eindruck, der sich einem aufdrängt, wenn man die Situation betrachtet, ist vollständige Bewunderung für das, was die Militärbehörden geleistet haben. Sie haben dabei faktisch die Zeitspanne, die für diese enorme Aufgabe eingeplant war, unterboten. Dafür gebührt allen militärischen Einheiten höchstes Lob bezüglich dieser Phase nach Einstellung der Kampfhandlungen. Wenn ich die Aufmerksamkeit auf bestehenden Zustände lenke, die ohne Frage der Behebung bedürfen, ist damit weder die Absicht noch der Wunsch verbunden, auch nur entfernt von den vorhergehenden Feststellungen abzurücken.

(2) Auch wenn ich die Zustände, wie sie sich unmittelbar nach der Befreiung darstellten, nicht wirklich gesehen habe, wurden sie mir ausreichend detailliert geschildert, um mir vollkommen deutlich zu machen, dass es in der Zwischenzeit zu manchen Verbesserungen in den Lebensumständen der verbleibenden Displaced Persons gekommen ist. In den Berichten, die inoffiziell aus Deutschland zu uns gedrungen sind, entweder von den Flüchtlingen selbst oder von Personen, die sich der Flüchtlingsgruppen annehmen, zeichnet sich eine Tendenz ab, das ganze Ausmaß der überwältigenden Aufgabe und der Verantwortung, vor die sich die Militärbehörden gestellt sehen, nicht mit einzubeziehen. Während es verständlich ist, dass bei denjenigen, die über eine derartig lange Zeit hinweg verfolgt und anderweitig misshandelt wurden, Ungeduld aufkommt, wenn es ihnen so vorkommt, als käme es zu einer unzumutbaren Verzögerung bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse, ist es ein Gebot der Fairness, sich bei der Bewertung des erreichten Fortschrittes das Gesamtproblem und alle seine Auswirkungen vor Augen zu halten. Mein Versuch bestand also darin, die vielen Beschwerden, die während meiner Untersuchung sowohl von den Displaced Persons selbst, als auch in ihrem Namen an mich herangetragen worden sind, wirklich sorgfältig gegen die vielen Verantwortungen abzuwägen, denen sich die Militärbehörden gegenübersehen.

(3) Während dieser Bericht der Kürze halber zu weiten Teilen aus allgemeinen Feststellungen besteht, sollte deutlich werden, dass es bezüglich praktisch aller dieser Generalisierungen Ausnahmen gibt. Ein ranghoher Angehöriger der Militärbehörde sagte mir voraus, dass ich während meiner bevorstehenden Reise durch Deutschland und Österreich hinsichtlich der Lager für Displaced Persons einige vorfinden würde, „die ziemlich gut seien, einige die sehr schlimm seien, der Durchschnitt sei irgendwo unter befriedigend“. Meine anschließende Reise bestätigte diese Vorhersage in jeder Hinsicht.

Um diesen Bericht zeitnah abliefern zu können, so dass möglicherweise einige Maßnahmen zur Abhilfe für ein frühestmögliches Datum ins Auge gefasst werden können, habe ich mir weder die Zeit genommen, alle Notizen zu analysieren, die ich mir während der Reise gemacht habe, noch die Situation in Frankreich, Belgien, Holland oder der Schweiz zu kommentieren, die ich ebenfalls bereiste. Dementsprechend bitte ich respektvoll darum, diesen Bericht als notwendigerweise unvollständig anzusehen. Die Probleme, die sich in Deutschland und Österreich darstellen, sind weitaus ernster und schwieriger als in irgendeinem der anderen genannten Länder, und auch diese Tatsache ließ die Abgabe eines Teilberichts unmittelbar nach Abschluss der Mission wünschenswert erscheinen.

Zusammenfassend möchte ich wiederholen, dass die wichtigste Lösung des Problems, in vielerlei Hinsicht die einzige reale Lösung, in der raschen Evakuierung aller nicht-repatriierbaren Juden in Deutschland und Österreich, die das wünschen, nach Palästina liegt. Soll dieser Plan Wirkung zeigen, darf er nicht lange hinausgeschoben werden. Die Dringlichkeit der Situation sollte anerkannt werden. Es ist unmenschlich, von den Leuten zu verlangen, unter den bestehenden Bedingungen noch eine Zeitlang weiter zu leben. Die Evakuierung der Juden aus Deutschland und Österreich nach Palästina wird das Problem der betroffenen Individuen lösen und wird zugleich für die Militärbehörden ein Problem aus der Welt schaffen, mit dem sich diese bisher befassen mussten. Die Fähigkeit der Armee, Millionen Menschen schnell und effizient zu verschieben, ist bereits zu Genüge bewiesen. Die Evakuierung einer relativ kleinen Anzahl von Juden aus Deutschland und Österreich wird für das Militär kein großes Problem darstellen. Mit dem Ende des Krieges in Japan sollte sich auch die Transportsituation ausreichend verbessern, um eine derartige Verlagerung in Erwägung ziehen zu können. Die zivilisierte Welt schuldet es dieser Handvoll Überlebenden, ihnen eine Heimat zu bieten, wo sie sich wieder niederlassen und ein Leben als Menschen beginnen können.

Hochachtungsvoll,

Earl G. Harrison



Quelle: Erstveröffentlichung in The New York Times, 30. September 1945. Erneut abgedruckt in Leonhard Dinnerstein, America and the Survivors of the Holocaust. New York 1982, S. 291 ff.

Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche: Katharina Böhmer

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