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Ursachen der Abwanderung: Bericht einer Brigade der ZK-Abteilung für Sicherheitsfragen (24. Mai 1961)

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Eine nicht unwesentliche Rolle spielen die ideologischen Einflüsse unter dem Eindruck und Ausnutzung der Konjunkturentwicklung. Bei den verschiedensten Schichten der Bevölkerung ergeben sich daraus »Idealvorstellungen« über die Lage in Westdeutschland, und sie glauben, daß es sich dort »besser, leichter, freier leben läßt«. Wenn man ins Ausland reisen will, braucht man weder Paß noch Devisen.

Viele Bürger, die nach Westdeutschland fahren bzw. Westbesuche erhalten, sehen einen Widerspruch zwischen unseren Darstellungen über die Lage und Entwicklung in Westdeutschland und ihren eigenen oberflächlichen Anschauungen unter dem Eindruck und den Einflüssen der Konjunkturentwicklung. Das drückt sich auch in solchen Argumenten aus, »daß in Westdeutschland niemand den Krieg will und vom Krieg spricht«.

Die Kanäle und Verbindungen, über die diese Einflüsse eindringen, werden noch ungenügend aufgedeckt und ungenügend konzentrierte Schläge geführt. Das trifft sowohl auf die offensive ideologisch-politische Arbeit als auch operative Tätigkeit und Abwehr durch die Staatsorgane zu.

Die Methoden der Abwerbung und Aufforderungen zum Verlassen der Republik sind sehr vielseitig. In diesem Zusammenhang spielen solche Maßnahmen der Bonner Regierung, wie die großzügige Ausgabe des »Flüchtlingsausweises C« an Bauern, Handwerker, Gewerbetreibende eine Rolle. Des weiteren wurden 1960 zahlreiche gesetzliche Bestimmungen erlassen, wie z. B. die 13. Novelle zum Lastenausgleichsgesetz, die vorsieht, daß alle Republikflüchtigen in die Hausratshilfe einbezogen werden. An Ärzte, andere Angehörige der Intelligenz, Handwerker, Gewerbetreibende u. a. werden Kredite zu günstigen Bedingungen gewährt, damit die Republikflüchtigen sozusagen »schnellen Fuß fassen«. [ . . . ]

Bei der organisierten Abwerbung kommt hinzu, daß sich Westberlin immer mehr zum Zentrum der Abwerbung herausgebildet hat. Zur Durchführung der Republikflucht wird zu 95 % der Weg über Westberlin benutzt.

Durch das Lemmer-Ministerium und andere Stellen werden in Westberlin Tagungen, Kongresse, Ausstellungen, Revanchistentreffen mit dem Ziel organisiert, Hetze gegen die DDR zu betreiben und Kontakte mit Bürgern aufzunehmen. Ein nicht geringer Teil von Republikflüchtigen, besonders Jugendliche, aus dem Bezirk haben an solchen Veranstaltungen teilgenommen bzw. sich in Westberlin aufgehalten. [ . . . ]

Häufig wurde auch festgestellt, daß republikflüchtige Personen bei ihrem besuchsweisen Aufenthalt in der DDR zum Teil mit Fahrzeugen ihre Bekannten, sogar ihre alten Arbeitsstellen aufsuchen und durch Verherrlichung des Westens zum Verlassen der Republik beitragen. [ . . . ]

Wiederholt traten Republikfluchten auch durch Beeinflussung von Rückkehrern und Erstzuziehenden auf. Die Hauptmethode ist dabei die Verherrlichung des Westens. [ . . . ]

Bei der Entwicklung des gesamtdeutschen Reiseverkehrs ist zu beachten, daß zahlreiche Bürger der DDR, von denen Angehörige illegal die Republik verlassen haben, besonders stark der Wunsch für einen Besuch vorhanden ist [sic] bzw. umgekehrt, daß Republikflüchtige versuchen, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Die Mehrzahl solcher Anträge wurde entsprechend dem Beschluß des Politbüros von 1957 abgelehnt. In nicht wenigen Fällen wird durch eine formale Behandlung dieser Probleme die Verärgerung verstärkt. Zum Beispiel erhalten Kreise der Intelligenz ausnahmslos Reisegenehmigungen nach Westdeutschland bzw. Aufenthaltsgenehmigungen, während bei anderen Schichten diese abgelehnt oder erschwerend genehmigt werden. Viele dieser Bürger sagen: »... Sind wir Menschen zweiter Klasse? Warum genehmigt man unsere Anträge nicht und warum macht man solche Unterschiede«. Die Ablehnung solcher Anträge führte vielfach zur Republikflucht.

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