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Publizist Arnulf Baring warnt vor einem deutschen Niedergang (1997)

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Das Ende des Wohlfahrtsstaates

Es ist vollkommen klar und unbestreitbar, daß die Sozialleistungen wie die Staatsschulden und damit der Zinsendienst kräftig sinken müssen, wenn unser Land seine Zukunft sichern will. Zwar hört man manchmal, eher seien Posten wie der Verteidigungsetat, der schon so oft herhalten mußte, weiter reduzierbar. Aber das verkennt die weiterbestehende Wichtigkeit einer raschen Abwehrbereitschaft wie die Proportionen: der Verteidigungshaushalt ist, relativ gesehen, klein; er betrug 1996 mit 47 381 Milliarden Mark nicht einmal ein Drittel dessen, was allein der Sozialetat des Bundes verschlang, nämlich 167 386 Milliarden Mark.

Es ist ein Gebot der Selbstachtung unserer Gesellschaft, dafür zu sorgen, daß Hilflose und Schwache, unverschuldet zeitweilig in Not geratene Mitbürger, nicht auf der Strecke bleiben. Das ist so selbstverständlich, daß es kaum der Erwähnung bedarf. Aber wenn von der unerläßlichen Überprüfung des Wohlfahrtsstaates die Rede ist, geht es nicht um die Unterstützung, der, wie man früher gesagt hätte, »verschämten Armen«, sondern um die Masse jener Staatsleistungen, die wir alle als willkommene Annehmlichkeiten der letzten Jahrzehnte betrachtet und gern in Anspruch genommen haben. Viele haben sich so sehr an diese Wohltaten gewöhnt, daß sie sie längst für selbstverständlich halten, sich oft gar nicht mehr der Tatsache bewußt sind, in welchem Maße ihre Lebensverhältnisse durch öffentliche Mittel erleichtert, verschönt, bereichert worden sind.

Das ist jetzt, einfach aus Mangel an Masse, bedauerlicherweise zu Ende. Die Kassen sind leer, Bund, Länder und Gemeinden gefährlich überschuldet. Leider kann man dennoch bisher keineswegs sicher sein, ob der notwendige Prozeß des Umdenkens leicht und bald in Gang kommt. Unerläßlich sind so geduldige wie hartnäckige Versuche, unsere Mitbürger aufzurütteln und ihnen klarzumachen, daß es wie bisher auf keinen Fall weiter geht. Ob wir von Notgemeinschaft, Solidarität oder Patriotismus reden, ist unerheblich. Wichtig ist allein die Einsicht, daß die guten Jahre vorüber sind. Stürme ziehen auf, und wir alle gemeinsam müssen auf Deck mithelfen, unser Schiff wetterfest zu machen. Sonst könnte es kentern.

Natürlich muß darauf geachtet werden, daß alle Bevölkerungsteile gleichermaßen belastet werden. Daher gehören die Steuerreform mit Beseitigung vieler Abschreibungsmöglichkeiten, die Renten- und die Gesundheitsreform, der Abbau von Sozialleistungen und von Subventionen notwendig zusammen, weil es jeweils um andere Gruppen und Interessen geht. Nur wenn eine große Mehrzahl Landsleute die Überzeugung gewinnen kann, jeder sei im Maße seiner Möglichkeiten von Einschränkungen betroffen, wird der soziale Friede gewahrt bleiben.

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Hat eigentlich der bisherige Sozialstaat die in ihn gesetzten Hoffnungen erfüllt? Hat er nicht vielmehr das Selbstvertrauen der Betroffenen abgetötet, weil sie sich, abhängig geworden, nicht mehr zutrauten, aus eigener Kraft ihr Leben zu meistern? Hinzu kommt, daß die Abhängigkeit von einer anonymen Bürokratie Ängste schafft, zumal im gleichen Maße, in dem staatliche Sozialinstanzen entstanden, ursprüngliche Solidarverbände – wie Familien, Nachbarschaften, Berufskollegen, freiwillige Zusammenschlüsse – sich zurückbildeten, ja ganz verschwanden.

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Diese Entwicklung hat, wie gesagt, die Vereinzelung des einzelnen enorm befördert. Er fühlt sich nicht mehr in irgendwelche Gruppen eingebunden, die ihm im Notfall helfen werden, sondern sieht sich an eine anonyme Bürokratie mit wechselnden Sachbearbeitern verwiesen – und das erhöht sein Unsicherheitsgefühl, statt psychische Stabilität zu schaffen. Wenn das aber der Fall ist, wenn Menschen durch eine Abhängigkeit, die ihr Selbstgefühl untergräbt, ängstlicher, innerlich unfreier werden, dann ist der ganze Sozialstaat womöglich auf einer falschen Prämisse errichtet.

Wer dagegen eine grundstürzende, umfassende Veränderung des öffentlichen Bewußtseins fordert, muß sich darüber im klaren sein, daß man ihm Hartherzigkeit und soziale Unsensibilität (bis hin zu Rechtsradikalismus) vorwerfen wird. Man wird sagen, weil der existierende Sozialstaat als links gilt, müsse, wer sein Ende konstatiere, notwendig politisch rechts sein. Aber der Einwand wird nicht durchschlagen, weil ihm die Fakten widersprechen. »Der größte Feind der neuen Ordnung ist, wer aus der alten seine Vorteile bezog«, heißt es schon bei Machiavelli.

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