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Philipp Scheidemann gegen die Annahme des Versailler Vertrages (12. Mai 1919)

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(Stürmischer Beifall und Händeklatschen)

Ich rechte nicht mit den anderen, denen der Käfig noch nicht dicht genug geflochten, noch nicht eng, noch nicht martervoll genug ist, der Käfig, in welchen das „deutsche Tier“ gesperrt werden soll. Wir kennen unsern Weg. Über diese Bedingungen darf er nicht führen! Es hieße, nicht an Deutschlands Zukunft zweifeln, sondern diese Zukunft opfern,

(lebhafte Zustimmung)

wenn wir anders denken und fühlen wollten.

(Beifall)

Stehen Sie uns bei bei der Anbahnung der Verhandlungen, lassen Sie niemand in der Welt darüber im Zweifel, daß Sie eins mit uns sind, das ganze Volk ein Wächter vor der Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder!

Ein einiges Volk vermag viel, ganz besonders, wenn es, wie wir heute, nicht für uns selbst, sondern für die Gesellschaft der Nationen dagegen protestiert, daß Haß verewigt, daß Fluch für immer verankert werde! Ihnen, den Mitgliedern der Deutschen Nationalversammlung, gilt heute das Wort: Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben! Bewahret sie! Würde dieser Vertrag wirklich unterschrieben, so wäre es nicht Deutschlands Leiche allein, die auf dem Schlachtfelde von Versailles liegenbliebe. Daneben würden als ebenso edle Leichen liegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Unabhängigkeit freier Nationen, der Glaube an all die schönen Ideale, unter deren Banner die Entente zu fechten vorgab, und vor allem der Glaube an die Vertragstreue!

(Lebhafte Zustimmung)

Eine Verwilderung der sittlichen und moralischen Begriffe, das wäre die Folge eines solchen Vertrages von Versailles, das Signal für den Anbruch einer Zeit, in der wieder, wie vier Jahre lang, nur heimtückischer, grausamer, feiger, die Nation das mörderische Opfer der Nation, der Mensch des Menschen Wolf wäre.

Wir wissen es und wollen es ehrlich tragen, daß dieser kommende Friede für uns ein harter sein wird. Wir weichen nicht um Fadensbreite von dem zurück, was unsere Pflicht ist, was wir zugesagt haben, was wir ertragen müssen. Aber nur ein Vertrag, der gehalten werden kann, ein Vertrag, der uns am Leben läßt, der uns das Leben als unser einziges Kapital zur Arbeit und zur Wiedergutmachung läßt, nur ein solcher Vertrag kann die Welt wieder aufbauen.

(Lebhafter Beifall und Zustimmung)

Solchem Vertrag unsere Unterschrift! Seinen Bestimmungen unsere Treue! Seinen Auflagen all unsere Kraft und Arbeit!

Nicht der Krieg, sondern dieser harte, kasteiende Arbeitsfriede wird das Stahlbad für unser aufs tiefste geschwächte Volk sein!

(Lebhafte Zustimmung)

Der Arbeitsfriede ist unser Ziel und unsere Hoffnung. Durch ihn können wir den berechtigten Forderungen unserer Gegner gerecht werden, durch ihn allein aber auch unser Volk wieder zu völliger Gesundung führen. Wir müssen von der Niederlage und den Krankheiten der Niederlage gesunden, ebenso wie unsere Gegner von den Krankheiten des Sieges!

Heute sieht es fast so aus, als sei das blutige Schlachtfeld von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze noch einmal in Versailles lebendig geworden, als kämpften Gespenster über all den Leichenhügeln noch einen letzten Kampf des Hasses und der Verzweiflung.

Wir kämpfen nicht mehr, wir wollen den Frieden. Wir sehen mit Grausen am Beispiel unserer Gegner, welche Verzerrungen Gewaltpolitik und brutaler Militarismus hervorbringen. Wir wenden uns schaudernd von dem jahrelangen Mord.

Gewiß: Wehe denen, die den Krieg heraufbeschworen haben! Aber dreimal wehe über die, die heute einen wahrhaften Frieden auch nur um einen Tag verzögern!

(Stürmischer Beifall und Händeklatschen)





Quelle: Philipp Scheidemann, „Gegen die Annahme des Versailler Vertrages 12. Mai 1919“, Politische Reden III, herausgegeben von Peter Wende. Deutscher Klassiker Verlag: Frankfurt am Main, 1994, S. 254-62.

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