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Betty Scholem an ihrem Sohn Gershom über die Lage in Deutschland (Februar/März 1993)

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Sonntag, 19. März 1933 u. Montag 20.


Mein liebes Kind!

[ . . . ] Du schreibst, Ihr hofft auf genaue Nachrichten! Ich muß Euch aber auf die Zeitungen verweisen, denn Vorsicht ist geboten. Gerüchte darf man schon gar nicht wiedergeben; ist aber auch nicht nötig, denn die Tatsachen genügen. Juristen u. Lehrern wird es am schlimmsten gehen, da man ihren Erwerb völlig unterbinden kann. Jüdische Ärzte sind bereits aus den Krankenhäusern dispensirt, wahrscheinlich folgen die Krankenkassen, aber ihren freien Beruf wird man wohl nicht direkt antasten. [ . . . ]

Ich bin wirklich für meine Person sehr ruhig, aber ich stehe doch nicht allein u. die Sorgen für meine Kinder u. Enkel sind doch wirklich keine Einbildung oder Schwarzseherei zu der ich schon aus Anlage nicht neige. Ein wahres Glück, daß Du weit vom Schuß bist! Jetzt auf einmal möchten Alle in Palästina sitzen!! Wenn ich bedenke, was für ein Geschrei sich in der deutschen Jüdischkeit erhob, als der Zionismus begann! Unser Vater, u. Väterchen Hermann L. u. der ganze Centralverein schlugen überzeugt an die Brust «Wir sind Deutsche!» Jetzt wird uns mitgeteilt, daß wir keine Deutschen sind! [ . . . ]

Auf den Straßen ist es absolut ruhig, wenigstens in den Stadtteilen, in die ich komme. In der Tauentzien ist dasselbe Spaziergetümmel an den eleganten Schaufenstern entlang wie stets, nur durch die Sammler mit der Hakenkreuzbüchse vermehrt, ich habe aber noch nicht gesehen, daß Jemand was giebt. Ich komme häufig dorthin, da ich mich mit meinen Klatschen am Wittenbergschlauch zu treffen pflege, um dann auf der Silberterrasse im K. d. W. die Ereignisse zu beklagen. Natürlich weiß ich genau, daß es uns noch sehr gut geht, so lange wir unbehelligt im K. d. W. beim Käffchen sitzen können. [ . . . ]

Herzlichst Kuß Mutt





Quelle: Betty Scholem und Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917-1946. Herausgegeben von Itta Shedletzky in Verbindung mit Thomas Sparr. München: Verlag C.H. Beck, 1989, S. 276-77, 284-86

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