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Felix Gilbert über seine Zeit als Student Friedrich Meineckes in den zwanziger Jahren (Rückblick 1988)

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Am nächsten Morgen rief mein Freund Mommsen an. Er erzählte, daß seine Mutter am Abend zuvor Frau Meinecke auf einer Gesellschaft getroffen habe. Frau Meinecke habe erzählt, ihr Mann sei höchst angenehm überrascht gewesen, zum ersten Mal in dreißig Jahren einen Doktoranden erlebt zu haben, der damit einverstanden war, auf der Stelle geprüft zu werden. Auch später noch kam Meinecke wiederholt darauf zurück. Die Prüfung trug dazu bei, eine etwas engere Verbindung zwischen uns zu schaffen; aber sie beruhte wohl weniger auf meinen wissenschaftlichen Qualitäten als auf meiner intellektuellen Unverschämtheit.

Jedenfalls war der Abschluß meines Geschichtsstudiums zufriedenstellend. Ein paar Wochen nach der Prüfung bot mir Meinecke nämlich an, die politischen Schriften Droysens für die Preußische Akademie der Wissenschaften herauszugeben, und er gab zu erkennen, daß er der Meinung war, ich solle eine akademische Laufbahn einschlagen, ohne Zeit auf ein Staatsexamen zu verwenden (das mich ja nur berechtigt hätte, Oberlehrer an einem Gymnasium zu werden). Damals war ich höchst zufrieden; unter praktisch-finanziellen Gesichtspunkten jedoch stellte sich heraus, daß es ein schlechter Rat war. Mit einem Staatsexamen hätte ich nach 1945 eine Pension erhalten, als ob ich die ganze Zeit des Dritten Reiches hindurch aktiv gewesen wäre.

Meinecke ist niemals Nationalsozialist geworden, und er brach auch nicht den Kontakt zu Freunden und Studenten ab, die nach 1933 Deutschland verlassen mußten. Andererseits brachte er in den dreißiger Jahren seine Abneigung gegen das Regime nie zum Ausdruck, und eine Zeitlang versuchte er angestrengt, Positives am Dritten Reich zu entdecken und in ihm eine mächtige, dynamische Kraft zu sehen. Diese Haltung überraschte mich nicht, und ich glaube, auch kaum einen seiner Studenten. Meinecke hatte sich einen »Republikaner aus Vernunft« genannt; die Republik war ihm als die geeignete Regierungsform nach dem Ersten Weltkrieg erschienen, aber sein Herz war nicht dabeigewesen. Ich erinnere mich, daß er mich anläßlich einer der häufigen Wahlen einmal fragte, ob ich für die Demokratische Partei arbeiten würde. Meinecke war mehr als erstaunt, als ich ihm sagte, daß ich bereit wäre zu helfen, aber nicht für die Demokratische Partei, sondern für die Sozialdemokraten stimmen würde. Ich sollte noch hinzufügen, daß zwar keiner seiner jüdischen Studenten Schwierigkeiten hatte, bei ihm zu promovieren, daß er nach meiner Kenntnis aber nur diejenigen Juden bei der Habilitation unterstützte, die christlich getauft waren.

Meinecke kam aus einer konservativen, einer sehr traditionellen Welt, und im Grunde konnte es nicht überraschen, daß dies seine Spuren hinterließ. Vielleicht ist es sogar erstaunlich, wie weit er gegangen ist, um über seine Welt hinauszukommen und sich anderen Ideen zu öffnen – dem Liberalismus, der Demokratie und konfessioneller Gleichberechtigung. Und es sollte auch nicht übersehen werden, daß das, was in seiner politischen Haltung eine Schwäche darstellte, eng mit seiner Stärke als Historiker zusammenhing: mit seinem historischen Relativismus, seiner Betonung, daß jede vergangene Zeit nach ihren eigenen Werten beurteilt werden müsse, seinem feinen Gefühl für den Wertewandel. Eine solche Haltung führt nicht zu sehr festen politischen Überzeugungen, aber Historiker, auch wenn sie beinahe schicksalhaft von der Politik angezogen werden, sind nicht notwendigerweise gute Politiker.



Quelle der deutschen Übersetzung: Felix Gilbert, Lehrjahre im alten Europa. Erinnerungen 1905-1945. Berlin: Wolf Jobst Siedler Verlag, 1989, S. 71-72, 78-81, 83-85.

Quelle des englischen Originaltexts: Felix Gilbert, A European Past. Memoirs, 1905-1945. New York and London: W.W. Norton & Company, 1988, S. 62-63, 68-71, 73-76.

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