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Dr. Elsa Herrmann, So ist die neue Frau (1929)

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Die Frau von heute hat sich das Ziel gesetzt, durch ihr Wirken und Handeln den Beweis zu erbringen, daß die Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts nicht Menschen zweiten Grades sind, die nur in Abhängigkeit und Hörigkeit existieren können, sondern ihren Posten im Leben durchaus auszufüllen vermögen. Beweis ihres Eigenwertes und Beweis des Wertes ihres ganzen Geschlechts ist also die Maxime, die das Leben jeder einzelnen Frau unserer Zeit beherrscht, um ihrer selbst und um der Allgemeinheit willen.

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Die Leute von gestern neigen vielfach dazu, die moderne Frau als unweiblich zu bezeichnen, weil sie nicht mehr in den für Küche und Haus zu verrichtenden Arbeiten aufgeht. Eine derartige Auffassung ist weniger charakteristisch für die Beurteilten als für die Urteilenden selbst, die sich eine Ansicht über das Wesen der Geschlechter auf Grund irgendwelcher zufällig in Erscheinung tretenden äußeren Merkmale gebildet haben. Denn die Begriffe „weiblich“ und „männlich“ haben letzten Endes ihren Ursprung im Erotischen und beziehen sich nicht auf die Betätigungsart. Eine Frau ist nicht deshalb weiblich, weil sie den Kochlöffel schwingt und beim Reinemachen das Oberste zu unterst kehrt, sondern weil sie die Eigenschaften an den Tag legt, die sie dem Manne begehrenswert erscheinen lassen, weil sie gütig, weich, verstehend, in ihrem Äußeren ansprechend ist und dergleichen mehr.

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Denn ganz abgesehen davon, daß von alters her jeder Krieg die Befreiung irgendwelcher geistig, seelisch oder körperlich gefesselten Bevölkerungsgruppen in Gefolgschaft hatte, hat die jüngst vergangene Kriegs- und Nachkriegszeit den Frauen durchaus nichts Außergewöhnliches gebracht, sondern sie nur aus ihrer Lethargie erweckt und ihnen die Verantwortung für ihr eigenes Schicksal auferlegt. Außerdem war das aus der Zeit der Not geborene Handeln der Frauen weder für sie selbst noch für die Allgemeinheit ein Novum, da die Theorie sich schon längere Zeit mit der Selbständigkeit und Gleichberechtigung der Frau in ihrem Verhältnis zum Mann beschäftigt hatte.

Die Frau von heute ist also keine künstlich gewollte Erscheinung, aus bewußter Auflehnung gegen ein bestehendes System konstruiert, sie ist vielmehr organisch mit der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung der letzten Jahrzehnte verwachsen. Ihre Aufgabe ist es, dem Gedanken der Gleichberechtigung der Frau auf allen Lebensgebieten die Wege zu bahnen. Das heißt nicht, daß sie sich für eine vollkommene Gleichheit der Vertreter beider Geschlechter einsetzt. Ihr Ziel geht vielmehr dahin, die Anerkennung der Vollwertigkeit des weiblichen Menschen durchzusetzen, der ein Recht darauf hat, daß man seiner besonderen körperlichen Beschaffenheit und Leistung Achtung und, wo es notwendig ist, Schutz angedeihen läßt.

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Quelle: Dr. Elsa Herrmann, So ist die Neue Frau. Hellerau: Avalun-Verlag, 1929, S. 32-43.

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