GHDI logo

Prof. Schultze-Naumburg und Walter Gropius, „Wer hat Recht? Traditionelle Baukunst oder Bauen in neuen Formen” (1926)

Seite 3 von 5    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Professor Dr. Schultze-Naumburg sagt:

I.

Wer das Bild unseres Landes und seiner Bauten aufmerksam und mit offenen Augen für ihre Physiognomie in sich aufgenommen hat, wird unschwer darin etwa folgende Gruppierung erkennen:

Zuerst einen Bestand, den man wohl am besten mit dem Begriff „aus der alten Zeit“ zusammenfassen kann, wenn sich sein Entstehen auch über viele Jahrhunderte erstreckt und etwa bis an die Freiheitskriege oder die Kongreßzeit heranreicht.

Dann ein immer rapideres Anwachsen von Bauten aller Art, die sich als solche aus der „neuen Zeit“ erweisen. Im schroffen Gegensatz zu jenem früheren Bestand, der klare, äußerst einprägsame Formen zeigt, so daß uns die Häuser wie eine Ansammlung von prachtvoll rassigen Charakterköpfen kerniger Bauern, männlicher Handwerker, feinsinniger Gelehrter und ritterlicher Edelleute anmuten, stehen wir jetzt plötzlich vor einem Chaos von Formen, oder richtiger gesagt Formlosigkeit, daß wir uns auf einem mit der Hefe eines Volkes gefüllten Marktplatz zu befinden glauben. Alles trägt hier die Züge der Unechtheit; unecht die Materialien, unecht die historischen Stile, die wie fadenscheinige Maskenkleider über eine schäbige und schmutzige Unterkleidung geworfen sind, unecht die Gesinnung, die stets etwas anderes und womöglich „Feineres“ im Schein vortäuschen will, als das tatsächliche Sein bedeutet; vollkommen hilflos, auch nur die rein sachlichen Forderungen vernünftig zu befriedigen, geschweige denn, eine künstlerisch und klar gestaltete Form für sie zu finden, im Ausdruck trübe und mürrisch.

Dann setzt plötzlich Ausgang der neunziger Jahre wie mit einem Ruck eine neue Bewegung ein, um dem Unheil, das sich wie eine Krebskrankheit als gigantisch wuchernde Zellenvermehrung ausbreitet, zu wehren. Sie versucht, zunächst einmal reinen Tisch zu machen, die tatsächlichen Bedürfnisse der Zeit zu erkennen und sie als klares Programm dem Bauen zugrunde zu legen. In den Formen will sie nicht das künstlich konservieren, was als weit hinter uns liegende Entwicklungsstufe unserem Gesichtskreis entschwunden ist, wohl aber den lebendigen Schatz alles Könnens und Wissens bewahren, den nie ein einzelner aus sich heraus plötzlich erfinden kann, sondern der das Ergebnis langer Kulturepochen ist. So soll das neue Haus sich deutlich als der Sproß unseres nordischen Kulturkreises bekennen und die Tradition genau da fortsetzen, bis wohin sie sich folgerichtig und gesund entwickelt hatte, um dann aus Gründen, die hier nicht untersucht werden können, auf ein totes Geleise zu laufen. Das Interregnum der großen Stil-Maskerade sollte eingekapselt und der Verödung überlassen werden.

Die Bewegung gewann bald Boden, wuchs allmählich stärker und stärker an und wurde in zahlreichen Abtönungen als Bauprogramm der gesamten ernsthaften und geschulten Architektenschaft aufgenommen, wenn es auch nicht möglich war, über Nacht aus einer Periode der schlimmsten Bauverwilderung eine Epoche mit sicherer Tradition heraufzubeschwören.

II.

Neben dieser Entwicklung, die allerdings durch den Krieg eine Unterbrechung erfuhr, tauchen nun seit einiger Zeit Bestrebungen auf, die ganz radikal mit unserer gesamten Vergangenheit brechen wollen und uns Häuser empfehlen, die in nichts mehr mit deutschem Gesicht und deutscher Landschaft etwas gemein haben sollen.

Ganz offensichtlich handelt es sich hier um eine deutliche Trennung der Geister: auf der einen Seite die, die sich bewußt um den für sie unentbehrlichen nordischen Kulturkreis versammeln, und solche, die absichtlich das vermeiden, was dem Deutschen ans Herz gewachsen ist, da sie behaupten, daß ihr Denken und Fühlen sie nicht dahin ziehe. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als ihnen das zu glauben.

Da es sich bei alledem nicht um eine einheitliche Schule handelt, sondern ganz verschiedenartige, oft einander entgegenstrebende Kräfte in Erscheinung treten, so muß versucht werden, all dies Zusammengewürfelte zu trennen und es einzeln zu besehen.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite