GHDI logo

Hermann Hesse, „Sehnsucht unser Zeit nach einer Weltanschauung” (1926)

Seite 2 von 2    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Ich wage es nicht, die Grenze zwischen noch Diskutierbarem und schon völlig Groteskem zu ziehen. Aber neben den immerhin bezweifelbaren Stiftern moderner Geheim-Orden, Logen und Verbrüderungen, den unerschrockenen Seichtigkeiten amerikanischer Mode-Religionen, den Ahnungslosigkeiten unentwegter Spiritisten stehen andere, stehen hohe und höchste Erscheinungen, stehen wunderbare Leistungen, wie die Neumannsche Übersetzung der heiligen buddhistischen Texte und deren Verbreitung, Richard Wilhelms Übersetzungen der großen Chinesen, steht das große und herrliche Ereignis der plötzlichen Wiederkunft des Laotse, der, durch Jahrhunderte in Europa unbekannt, innerhalb dreier Jahrzehnte in zahllosen Übersetzungen fast in allen europäischen Sprachen erschienen ist und sich des europäischen Denkens bemächtigt hat. So wie im Wirrwarr und ärgerlichen Betrieb der so merkwürdigen deutschen Revolution einige reine, edle, unvergeßliche Gestalten stehen, wie Landauer und Rosa Luxemburg, ebenso stehen inmitten der wilden, trüben Flut moderner Religionsversuche eine Anzahl edler, reiner Erscheinungen, Theologen wie der Schweizer Pfarrer [Leonhard] Ragaz, Gestalten wie der im Alter zum Katholizismus bekehrte Frederik van Eeden, Männer wie in Deutschland der ganz einzigartige Hugo Ball, einst Dramaturg und Hauptbegründer des Dadaismus, dann unerschrockener Kriegsgegner und Kritiker der deutschen Kriegsmentalität, dann Einsiedler und Verfasser des wunderbaren Buches »Byzantinisches Christentum«, und, um die Juden nicht zu vergessen, Martin Buber, der dem modernen Judentum vertiefte Ziele zeigt und uns die Frömmigkeit der Chassidim, eine der liebenswertesten Blüten im Garten der Religionen, in seinen Büchern wiedergeschenkt hat.

»Und nun«, wird mancher Leser fragen, »wohin führt das alles? Was wird das Ergebnis sein, das Endziel? Was haben wir für die Allgemeinheit davon zu erwarten? Hat eine von den neuen Sekten Aussicht darauf, eine neue Weltreligion zu werden? Wird einer der neuen Denker fähig sein, eine neue, großzügige Philosophie aufzustellen?«

Aus manchen Kreisen wird diese Frage heute bejaht. Es herrscht bei manchen Anhängern der neuen Lehren, zumal bei der Jugend, eine frohe, siegesgewisse Jüngerstimmung, als sei unsere Epoche dazu bestimmt, den Heiland zu gebären, der Welt für eine neue Kulturperiode neue Gewißheiten, neuen Glauben, neue sittliche Orientierungen zu geben. Jener schwarzen Untergangsstimmung mancher älteren, enttäuschten Zeitkritiker entspricht als Gegenpol diese Jugendgläubigkeit der Neubekehrten. Und immerhin tönen diese jungen Stimmen angenehmer als jene verdrießlich-alten. Dennoch dürften diese Gläubigen im Irrtum sein.

Es ziemt sich, dem Wollen unserer Zeit, diesem drangvollen Suchen, diesen zum Teil leidenschaftlich-blinden, zum Teil besonnen-kühnen Experimenten mit Ehrfurcht entgegenzukommen. Seien sie auch alle zum Scheitern verurteilt, so sind sie doch eine ernste Bemühung um höchste Ziele, und sollte sogar keine von ihnen diese Zeit überdauern, so erfüllen sie doch für ihre Tage eine unersetzliche Aufgabe. Sie helfen, alle diese Fiktionen, diese Religionsbildungen, diese neuen Glaubenslehren, sie helfen den Menschen zu leben, sie helfen ihm, das schwere, fragwürdige Leben nicht nur ertragen, sondern hoch zu werten und zu heiligen, und wenn sie nichts wären als ein holdes Stimulans oder eine süße Betäubung, so wäre schon dies vielleicht gar nicht so wenig. Sie sind aber mehr, unendlich viel mehr. Sie sind die Schule, durch welche die geistige Elite dieser Zeit hindurchgehen muß. Denn zweierlei Aufgabe hat jede Geistigkeit und Kultur: den Vielen Sicherheit und Antrieb zu geben, sie zu trösten, ihrem Leben einen Sinn zu unterlegen – und dann die zweite, geheimnisvollere, nicht minder wichtige Aufgabe: den Wenigen, den großen Geistern von morgen und übermorgen, das Aufwachsen zu ermöglichen, ihren Anfängen Schutz und Pflege zu leihen, ihnen Luft zum Atmen zu geben.

Die Geistigkeit unserer Zeit ist von der, welche wir Älteren einst als Erbe antraten, unendlich verschieden. Sie ist turbulenter, wilder, traditionsärmer, sie ist schlechter geschult und hat wenig Methode – aber alles in allem ist gewiß diese heutige Geistigkeit, samt ihrem starken Hang zum Mystischen, um nichts schlechter als die besser erzogene, gelehrtere Geistigkeit jener Zeit, in welcher der altgewordene Liberalismus und der junge Monismus die führenden Richtungen waren. Mir persönlich, so muß ich bekennen, ist sogar die Geistigkeit der heute führenden Strömungen, von Steiner bis zu Keyserling, noch um einige Grade zu rationell, zu wenig kühn, zu wenig bereit, ins Chaos, in die Unterwelt einzutreten und dort bei Fausts »Müttern« die ersehnte Geheimlehre vom neuen Menschentum zu erlauschen. Keiner der heutigen Führer, so klug oder so begeistert sie seien, hat den Umfang und die Bedeutsamkeit Nietzsches, dessen wahre Erben zu werden wir noch nicht verstanden haben. Die tausend einander durchkreuzenden Stimmen und Wege unserer Zeit aber zeigen ein wertvolles Gemeinsames: eine gespannte Sehnsucht, einen aus Not geborenen Willen zur Hingabe. Und die sind Vorbedingungen alles Großen.



Quelle: Hermann Hesse, “Sehnsucht unser Zeit nach einer Weltanschauung”, Uhu 2 (1926), S. 3-14; abgedruckt in Hermann Hesse: Betrachtungen und Berichte I 1899-1926. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2003, S. 479-84.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite