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George L. Mosse über seine Berliner Kindheit in den letzten Jahren der Weimarer Republik (Rückblick 2000)

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Die Villa, die mein Großvater Mosse für seine Tochter und ihren Mann – meine Eltern – im Westen Berlins erbauen ließ, war ganz anders als das Palais: moderner und eher unauffällig. In diesem Haus verbrachte ich einen Teil meiner frühen Kindheit. Im oberen Stock hatten wir drei Kinder je ein Schlaf- und ein Spielzimmer (das zum Wohnzimmer wurde, als mein Bruder und meine Schwester älter wurden). Auch hier lebte ich in meiner eigenen kleinen Welt. Die Gemeinschaftsräume und das Esszimmer befanden sich im Erdgeschoss, ebenso das Arbeitszimmer meines Vaters. Die beiden großen, vornehm ausgestatteten Wohnzimmer im Erdgeschoss haben sich in meiner Erinnerung als öffentliche Räume festgesetzt, weil dort so viele Einladungen stattfanden; an sie schloss sich ein großes, mit Medici-Gobelins dekoriertes Speisezimmer an. An der Rückseite des Hauses, von den Wohnzimmern aus zugänglich, befand sich ein kleiner Konzertsaal, in dem bekannte Musiker auftraten, entweder als Solisten oder im Quartett. Die Tradition der Hauskonzerte lebte in diesen Kreisen weiter. Wir erhielten Gegeneinladungen zu ähnlichen Konzerten bei Bekannten, und ich erinnere mich bis zum heutigen Tag an den Auftritt eines Streichquartetts im Haus des bekannten Bankiers Carl Melchior, das ich ausnahmsweise einmal in Begleitung meiner Eltern besuchen durfte.

Nach Ansicht meiner Eltern war ich damals wohl noch viel zu jung, um am kulturellen Leben Berlins teilzuhaben. Ich empfand es später immer als eigenartig, wenn ich von Studenten gefragt wurde, ob es nicht aufregend gewesen sei, die legendäre kulturelle Aufbruchstimmung im Berlin der Weimarer Republik hautnah mitzuerleben. Gewiss durfte ich, wie andere Kinder auch, mit meinen Eltern gelegentlich in die Oper gehen – die erste Oper, die ich erlebte, war Friedrich von Flotows Martha, die zweite Albert Lortzings Zar und Zimmermann –, niemals aber ins Theater. Meine Kindheit verbrachte ich fast ausschließlich in Schenkendorf oder im Innern des elterlichen Stadthauses in der Maaßenstraße (in einem der vornehmsten Berliner Bezirke). Um uns herum standen hier die Häuser anderer Mitglieder der jüdischen Elite Berlins, von denen die meisten einander kannten. In dieser Hinsicht hatte eine gewisse Reghettoisierung stattgefunden, wenn sie auch alles andere als vollständig war. Sogar in Schenkendorf waren wir von Landgütern umgeben, die Bekannten meiner Eltern gehörten, meistens Bankiers oder Industriellen. Die meisten dieser herrlichen Anwesen überlebten sogar den Zweiten Weltkrieg. In den 1960er Jahren wurden sie dann jedoch abgerissen, um großstädtischen Wohnsiedlungen Platz zu machen, die sich in Gestalt hässlicher Einheitsquader aus vorfabrizierten Betonplatten breit machten.

Neben meinem Elternhaus in Berlin war der Ort, an dem ich, bevor ich in die Internatsschule kam, viel Zeit verbrachte und wohin ich später in den Ferien oft zurückkehrte, der Landsitz meines Großvaters in Schenkendorf. Im flachen Umland Berlins mit seinen Birkenhainen und seinem sandigen Boden gelegen, war Schenkendorf ursprünglich ein Rittergut gewesen. Im wilhelminischen Deutschland konnte sich derjenige, der ein solches Anwesen sein eigen nannte, mit dem Titel »Rittergutsbesitzer« schmücken – das war wichtig in einer Welt, in der Titel gesellschaftlichen Status garantierten. Das Gebäude selbst war erst in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden. Es lag inmitten eines großen Parks, der seinerseits von weitläufigen Ackerflächen umgeben war. Der Bauernhof, der sich direkt am Ende des Parks befand, war mit seinen Stallungen und seiner stillgelegten Zuckerrüben-Raffinerie für uns Kinder immer ein attraktives Spielgelände.

Was das Dorf Schenkendorf selbst betraf, so war in den 1890er Jahren die Kohleförderung eingestellt worden, von der es gelebt hatte. Die Bergarbeitersiedlung war jedoch erhalten geblieben und verlieh der Ortschaft mit ihren wenigen hundert Einwohnern ihren Charakter. Die ockerfarbenen Häuschen wurden »Siemenshäuser« genannt, nach dem berühmten deutschen Unternehmen, dem die Kohlenzeche gehört und das die Siedlung für seine Arbeiter errichtet hatte. Noch heute schmückt das Wappen der Bergarbeitergewerkschaft das größte Haus im Dorf, das einst das Gemeinschaftsgebäude der Bergleute gewesen war. Für mich allerdings war das alles nur schemenhafter Hintergrund. Ich erinnere mich nicht, mit den Kindern aus dem Dorf in Berührung gekommen zu sein, obwohl mir später erzählt wurde, einige von ihnen seien hin und wieder zu uns eingeladen und mit Kuchen und Süßigkeiten bewirtet worden, damit ich Spielkameraden hatte. An meinem Geburtstag spielte mir die Dorfkapelle jedes Mal ein Ständchen vor der großen Terrasse, eine Geste der Ehrerbietung, die ich einmal mehr als selbstverständlich ansah.

Schenkendorf war ein außerordentlich armes Dorf, und es hieß, 1933 habe die Hälfte seiner Einwohner die Nazis und die andere Hälfte die Kommunisten gewählt. Meine Eltern wurden von den Leuten als so etwas wie die Grundherren betrachtet und verhielten sich auch so. 1928 zum Beispiel stifteten sie dem Dorf zwei Kirchenglocken; in die eine war der Name meiner Schwester eingraviert, in die andere der meine. Weshalb mein Bruder, wie es scheint, leer ausging, weiß ich nicht. Lebhaft erinnere ich mich noch an die feierliche Einweihung der Glocken, der als Ehrengast der evangelische Superintendent des Bezirks beiwohnte. »Meine« Glocke ist der einzige konkrete Gegenstand, der mich noch heute mit Schenkendorf verbindet, denn sie ist nach wie vor im Anwesen und im ganzen Dorf zu hören, während die nach meiner Schwester benannte Glocke im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen wurde. An der Kirche fand ich als Kind nur die Tatsache beeindruckend, dass in ihrem Kellergewölbe die sterblichen Überreste der Kinder des Grafen von Löben ruhten, der im 17. Jahrhundert Gutsherr auf Schenkendorf gewesen war. Die achtzehn halb geöffneten Särge, in denen ihre Gebeine lagen, boten einen faszinierenden, wenn auch grausigen Anblick. Die Kirche selbst entpuppte sich nach ihrer Restaurierung durch die DDR-Behörden als ein höchst sehenswürdiges Juwel des 17. Jahrhunderts.

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