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Theodor Heuss, „Demokratie und Parlamentarismus, ihre Geschichte, ihre Gegner und ihre Zukunft” (1928)

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Die Erkenntnis dieses Zusammenhangs hat sich, wenn freilich nur zögernd, in den letzten Jahren auch bei denen durchgesetzt, die die Demokratie ablehnen, das Nationale aber in betontem Sinn vertreten wollen. Sie haben in ihrer Verlegenheit den Ausweg gefunden: daß die Demokratie mit dieser Konsequenz wohl für die geschlossenen Siedlungsgebiete des europäischen Westens „passen" möge, aber nicht für die mittleren und östlichen Bezirke. Ja nun: als ob eine geistige Idee und ein moralischer Anspruch, wenn sie in die Völker fahren, sich vorher erkundigen, ob sie auch für einander passen? Die Zertrümmerung des osmanischen, des habsburgischen Staates sind die Wirkungen dieses geistig-politischen Prozesses. Aber die Pariser Friedensschlüsse von 1919 haben ihm eine Ruhelage nicht gegeben, sondern die Spannungen verewigt, indem sie unter der agitatorischen Beschwörung demokratischer Ideologie demokratische Voraussetzungen verweigerten oder vernichteten.

Es ist vollkommen unerheblich, daß jemand für „Paneuropa" schwärmt oder sonstige marktgängige Rezepte für die Rettung der Welt in Reserve hat, mit Weltparlamenten und ähnlichen Zurichtungen, sofern er diese Zusammenhänge übersieht. Die Demokratie ist weder pazifistisch noch militaristisch aus ihrem Grundwesen heraus; sie kann beides sein, ihre geistige Haltung wird davon bestimmt werden, in welchem Spannungsverhältnis, in welcher Übereinstimmung volkhaftes Leben und staatliche Struktur stehen. Die Demokratie hat das Nebeneinander der Völker nicht verniedlicht, verharmlost und wohlmeinend befriedet, sondern sie hat in ihnen die Dämonie ihres Selbstbewußtseins geweckt. Das eben macht ja die Politik auf einem gedrängt besiedelten Kontinent mit ihren unendlichen Wechselwirkungen so verworren, gefährlich und verantwortungsvoll. Doch der Zusammenhang darf nur angedeutet werden; ihn weiter zu verfolgen, geht über das Ziel hinaus, das dieser Arbeit gestellt wurde.



Quelle: Theodor Heuss, “Demokratie und Parlamentarismus: ihre Geschichte, ihre Gegner und ihre Zukunft,” in Zehn Jahre deutsche Republik. Ein Handbuch für republikanische Politik, Hrsg. Anton Erkelenz. Berlin: Sieben-Stäbe Verlag, 1928, S. 98-117.

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