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Betty Scholem über das Chaos der Revolution (Januar 1919)

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Berlin, 13. Januar 1919, Montag

Liebes Kind!

Wir haben eine unbeschreibliche Woche hinter uns, unheimlich im größten Grade. Es scheint jedoch, als sei Spartakus jetzt überall vertrieben; diese Schreckensherrschaft war furchtbar. Unsere gute alte Normal-Uhr auf dem Spittelmarkt hat auch einen Schuß ins Zifferblatt u. ins Herz gekriegt u. unserem Wurscht-Maxe Kretschmer sind 2 Kugeln in den Laden geflogen u. durchbohrten seine Milz, zum Glück nur die auf dem Ladentisch. Am Sonnabend Nachmittag ging ich mit Dr. Meyer, der garnicht zu halten war u. die Revolution sehen wollte, durch die stockfinstere Wallstr. bis hinter die Kolonnaden in der Leipziger, alles stockduster, die ganze Leipziger in Nacht gehüllt, die Beuthstr. abgesperrt, der Dönhoffplatz vom Widerhall der Schüsse erfüllt, überall gespenstige Gruppen von Menschen, na, wir machten doch schnell wieder Kehrt! Am Abend war dann der «Vorwärts» genommen u. aus dem Mosse-Haus u. Ullstein sind die Spartakus-Herrschaften ausgerückt. Gestern Vormittag besichtigten wir den Kampfplatz in der Lindenstr. Das Vorwärts-Gebäude sieht entsetzlich aus, die Minen haben das Haus vom Dach bis zum Keller durchschlagen. Die Nebenhäuser u. die Gegenübers sehen auch furchtbar aus. [ . . . ]

Vater läßt Dich schön grüßen, er hat keine Zeit zum Schreiben, er u. Reinhold arbeiten ununterbrochen, es ist viel zu tun! Die Zeit ist den Druckern günstig, Flugblätter u. Aufrufe u. Plakate jagen sich. [ . . . ]

Kuß Mutt



Quelle: Betty Scholem und Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel: 1917-1946. Herausgegeben von Itta Shedletzky in Verbindung mit Thomas Sparr. München: Verlag C.H. Beck, 1989, S. 30-33.

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