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Arnold Brecht über die letzten Kriegswochen (Rückblick 1966)

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Wilsons Antwort ist vom 5. Oktober. Sie verlangt eine nähere Festlegung auf die Punkte des Präsidenten in dem Sinne, daß beim Eintritt in die Diskussion nur noch eine Verständigung über die praktischen Einzelheiten ihrer Anwendung stattfinden soll. Sie fordert zweitens die Räumung der von Deutschland besetzten Gebiete und stellt drittens eine Frage nach den in Deutschland maßgebenden Gewalten.

Am 9. Oktober wird mündlich mit Ludendorff verhandelt, der einen kurzen Rückblick über die ganze Kriegsgeschichte gibt. In der Aussprache erklärt Oberst Heye wiederum: „Es wäre Hasardspiel der Obersten Heeresleitung, wenn sie den Friedensschritt nicht beschleunigte. Es kann sein, daß wir bis zum Frühjahr halten, es kann aber auch jeden Tag eine Wendung kommen. Gestern hing es an einem Faden, ob Durchbruch gelang. Truppe hat keine Ruhe mehr. Unberechenbar, ob Truppe hält oder nicht. Jeden Tag neue Überraschungen. Ich fürchte nicht eine Katastrophe, sondern möchte Armee retten, damit wir während der Friedensverhandlungen sie noch als Druckmittel haben.“

Der zuletzt angedeutete Gedanke wird wiederholt von der Obersten Heeresleitung aufgenommen. Ludendorff vertritt den Standpunkt, daß Deutschland nicht gezwungen sei, alle Forderungen anzunehmen, daß insbesondere eine etwaige Forderung auf Preisgabe deutscher Festungen abgelehnt werden könne. Aber die Antworten auf die Frage, wie lange noch Widerstand geleistet werden kann, lauten wechselnd und unsicher. Ludendorff antwortet auf die Frage, ob die Front noch drei Monate gehalten werden kann, mit Nein, und auf die Frage des Prinzen Max: „Kann beim Scheitern der gegenwärtigen Friedensaktion trotz des Abfalls der beiden uns noch verbliebenen Bundesgenossen der Krieg allein von uns noch fortgeführt werden?“ lautet Ludendorffs Antwort stark bedingt: „Wenn eine Kampfpause im Westen eintritt, ja.“

Die deutsche Erwiderung auf Wilsons Antwort ergeht noch in vollem Einvernehmen mit der Obersten Heeresleitung.

Die zweite Note Wilsons vom 15. Oktober wird wesentlich schärfer. Sie trennt zum ersten Male den Frieden vom Waffenstillstand, dessen Bedingungen „dem Urteile und dem Rate der militärischen Berater“ überlassen werden müssen, spricht von ungesetzlichen und unmenschlichen Praktiken der deutschen Streitkräfte und erklärt, daß die ganze Durchführung des Friedens „von der Bestimmtheit und dem befriedigenden Charakter der Bürgschaften abhängen wird“, welche in den grundlegenden Fragen der inneren Gewalten gegeben werden können. Österreich erhält eine besondere Antwort. Die Bestürzung über diese Note in ganz Deutschland und namentlich ihre Wirkung auf das Heer ist offenbar groß. Der Widerspruch regt sich überall, der Stolz bäumt sich auf, und die Oberste Heeresleitung möchte zurück. Es erhebt sich nun die schwere Frage, ob man noch zurück kann. Denn die Offenbarung der schlechten Lage nach vierjähriger Behauptung des sicheren Sieges hat inzwischen im Ausland und Inland ihre Wirkung getan.

Das Verhältnis zwischen der Obersten Heeresleitung und der Reichsleitung dreht sich. Die Oberste Heeresleitung fragt an, ob die deutschen Massen noch einmal in den Kampf bis zum Äußersten mitgehen würden, oder ob die moralische Widerstandskraft dafür zu sehr erschöpft sei. Staatssekretär Dr. Solf sieht in diesen Zeilen nicht nur einen Appell an das deutsche Volk, sondern zugleich den Versuch, die Verantwortlichkeit zu verschieben. „Warum sei denn die Stimmung so gedrückt? Weil die militärische Macht zusammengebrochen sei. Jetzt aber sage man: Die militärische Macht wird zusammenbrechen, wenn die Stimmung nicht durchhält. Diese Verschiebung dürfe man nicht zulassen; sie passe schlecht zu den eigenen Worten Ludendorffs, der mit dem Kriegsminister einig gewesen sei, daß eine levée en masse nicht möglich ist.“

Am 17. Oktober finden drei Sitzungen statt. Über die mittlere mit Ludendorff, in der die gesamte Lage nach allen Richtungen durchgesprochen wird, liegt eine ausführliche Niederschrift von Simons vor. Ludendorff spricht sich hoffnungsvoller als vor zwei Wochen über die Möglichkeit aus, über die nächsten Wochen hindurch standzuhalten. Aber seine unbestimmten und wechselnden Äußerungen finden gegenüber der Wucht der Tatsachen, die zur Sprache kommen, zum Teil kein volles Vertrauen. [ . . . ]

Auf die zusammenfassende Frage, ob die Westfront bei Überführung der Kräfte aus dem Osten – deren Möglichkeit noch zweifelhaft ist – nach drei Monaten noch stehen werde, antwortet Ludendorff: „Ich habe schon dem Herrn Reichskanzler gesagt, ich halte einen Durchbruch für möglich, aber nicht für wahrscheinlich. Innerlich wahrscheinlich halte ich den Durchbruch nicht. Wenn Sie mich auf mein Gewissen fragen, kann ich nur antworten: Ich fürchte ihn nicht.“ Auf Vorhalt seiner eigenen früheren Erklärungen antwortet er: „Es ist auch heute so, daß wir jeden Tag eingedrückt und geschlagen werden können. Vorgestern ist es gut gegangen; es kann auch schlecht gehen.“

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