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Kanzlerdemokratie unter Gerhard Schröder (26. Juli 2002)

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Verstöße werden zur Regel.

Denn der SPD-Kanzler hat eine Vielzahl von Sonderbeauftragten ernannt (von der Zuwanderungsfrage über Entschädigung der Zwangsarbeiter bis zum MKS-Krisenstab), die mit Bedacht nicht den Regierungsparteien entstammen. Immer neue Konsensrunden stellen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages vor vollendete Tatsachen. Selbstverpflichtungen der Verbände wie im Gesundheitswesen tun ihr übriges. So verringern sich die Spielräume der Mehrheitsfraktionen im Parlament auf Nachbesserungen im Detail.

Am 16. November 2001 nutzte Schröder sein Initiativrecht, um die Abstimmung über den Anti-Terror-Einsatz der Bundeswehr mit der Vertrauensfrage zu verbinden. Das war ein Novum in der Geschichte des Bundestages. Der Kanzler überführte damit die in der Verfassung vorgesehene Disziplinierungsmaßnahme zum Erhalt der Kanzlermehrheit in ein Modell des imperativen Mandats: Die Weisung zum Machterhalt wurde mit einem bestimmten politischen Votum verknüpft.

Eine Akzentveränderung zwischen Amt und Mandat deutet sich auch beim Bundesrat an. Bisher funktionierte das Zusammenwirken zwischen dem Bundestag und der Länderkammer meist unter den Bedingungen des Parteienstaates. Dennoch war den Ministerpräsidenten häufig ihr Land wichtiger als die eigene Partei. Sonst wären viele Mehrheiten im Bundesrat gar nicht zustande gekommen. Die Kanzler schmiedeten über alle Parteigrenzen hinweg die unterschiedlichsten Koalitionen mit mehr oder weniger seriösen, regelmäßig finanziellen Versprechen.

Doch außerhalb des institutionellen Vermittlungsverfahrens agierte bislang nur Kanzler Schröder: Der 14. Juli 2000, an dem er das Steuerpaket durch den Bundesrat brachte, markiert da einen Einschnitt. Schröders Coup war möglich, weil ein wesentlicher Teil des Abstimmungspaketes regelwidrig nicht vor Beginn der Debatte veröffentlicht worden war, sondern telefonisch für ein erst noch zu entwerfendes Gesetz vereinbart wurde. Die Ad-hoc-Mehrheit für die Steuerreform im Bundesrat war erst in der Nacht vor der Sitzung zustande gekommen. Der Kanzler mißachtete die grundlegende Bedeutung der Publikationspflicht: die Herstellung von Öffentlichkeit. Auch bei der Abstimmung im Bundesrat über das Zuwanderungsgesetz im März 2002 zeigte sich ein neuer Stil. Deswegen sah sich, zum ersten Mal in der Geschichte der Republik, der Bundespräsident zu einer Rüge veranlaßt. Außerdem verstößt Schröder mit der zunehmenden Präsidentialisierung des Politikprozesses gegen die Regeln im Berliner Regierungsalltag. Das Kanzleramt beeinträchtigt als mächtige Regierungszentrale das Ressortprinzip der Bundesregierung. Was Kohl erst in den neunziger Jahren gelang, läßt Schröder schon nach drei Jahren geräuschlos organisieren: Keine noch so kleine Initiative eines Ressorts kann ohne den Segen des Kanzleramtes an die Öffentlichkeit gelangen.

Präsidialkabinette zeichnen sich nicht nur durch eine hohe Fluktuation der Minister aus. Hier hält Gerhard Schröder mit acht Ministern den Rekord. Daß sich der Regierungschef von Kabinettsmitgliedern bewußt absetzt und sich selber auf Kosten des Koalitionspartners staatsmännisch überhöht, sind weitere Zeichen eines präsidentiellen Regierungsstils im parlamentarisch-repräsentativen System. Schröders parlamentarische Stärke hängt mit seiner deutlichen Mehrheit im Bundestag zusammen. Anders als Kohl braucht er fast keine Rücksicht auf den Koalitionspartner zu nehmen. Schröder ist ein Spielertyp, der jeden Koalitionspartner – ob in Hannover oder in Berlin – nur als Beigabe kraftstrotzender Richtlinienpolitik akzeptiert. Seine Kanzlerschaft prägt spätestens seit dem Ausscheiden von Lafontaine – dem Baumeister der rot-grünen Koalition – ein rein instrumentelles Verhältnis zum grünen Partner. Das liegt an seinem Verständnis von Regierungshandeln. Der Kanzler ist zuallererst Regierungschef, erst in zweiter Linie Parteiführer. Kohls Macht fußte auf der Partei. Als Populist macht Schröder hingegen aus dem Defizit mangelnder Nähe zur Basis der Sozialdemokratie eine Tugend. Wenn nötig, treibt er mit telegenem Schwung von außen die Parteigremien an. Sein Generalsekretär übersetzt dann der übrigen Partei die Vorhaben des Kanzlerpräsidenten.

„Sofa-Government“, die informelle persönliche Beratung des Kanzlers durch handverlesene Netzwerker (Spin-doctors), gibt den Nichtgewählten in seinem Stab mehr Einfluß als den Mitgliedern der Fraktion, des Kabinetts, der Koalitionsrunde. Dramatisch zugespitzt hat sich diese tendenzielle Präsidentialisierung durch die Terrorakte des 11. September.

Die Präsidentialisierung und die Delegitimierung von Verfassungsorganen gehen einher mit einer plebiszitären Umwandlung der Berliner Republik. Schröder handelt als Multi-Options-Pragmatiker und Tageskanzler. Zunächst tastet er die inhaltlichen Spielräume ab. Stoßen die Regierungsvorschläge auf öffentlichen Widerstand, werden neue Optionen gesucht. Auch die Problemlösung, meist in temporären Allianzen, ist primär auf Publikumswirksamkeit ausgerichtet. Mal befriedigt Schröder mit dem neuen Betriebsverfassungsgesetz die SPD-Traditionsbataillone, mal hofiert der Kanzler mit der Green-Card-Initiative die Unternehmer. All das entspringt einer Pragmatik des Augenblicks, die machterhaltend und problemlösend, jedoch vollständig traditionslos im Sinne des sozialdemokratischen Milieus daherkommt.

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