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Das System Kohl (28. September 1998)

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Kohl mit seinem ausgeprägten Gespür für Zeitströmungen hat diese Veränderungen sehr wohl registriert. Seine Reden aus jüngerer Zeit sind voll von nachdenklichen Passagen über Werteverfall, Individualisierung und Traditionsverlust. Aber er hat es versäumt, Folgerungen daraus zu ziehen und sie in seiner Partei umzusetzen. So viel er auch als Kanzler über den Zwang zu Veränderungen und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sprach, von der Zukunft der eigenen Partei war selten die Rede. Die hat sich, ob von Kohl gewollt oder nicht, zunehmend nur noch über ihren Vorsitzenden und Kanzler definiert. „Ohne ihn geht schon lange überhaupt nichts mehr“, spotteten CDU-Ketzer, „aber mit ihm geht immer weniger.“


Die jungen Wilden

Nicht etwa, daß er den Nachwuchs nicht gefördert hätte. Doch wenn die „jungen Wilden“ an der Spitze der Landtagsfraktionen und Landesverbänden mit ihren Forderungen nach radikaler Steuerreform, Entbürokratisierung und Einschnitten im Sozialsystem seine Konsenspolitik als Regierungschef störten, wurden sie von Kohl autoritär zurechtgestutzt.

Vereinigungen innerhalb der CDU, die sich einst als „Fühler in die Gesellschaft“ verstanden, haben ihren früheren Einfluß weitgehend verloren. Ob CDA, unter der die Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsgruppe firmiert, oder Frauen-Union, Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung oder Senioren-Union – fast alle sind zu Traditionsklubs verkümmert, die ihre gewohnten Rituale pflegen und in überkommenem Denken verharren. Die Junge Union eingeschlossen, die heute so zahm ist, daß sich der einstige JU-Rebell Helmut Kohl gelegentlich über so viel Fügsamkeit wundert.

Keinem von Kohls Amtsvorgängern ist es gelungen, ihren Abgang als Kanzler selbst zu bestimmen. Sie wurden entweder von ihrer Partei fallengelassen oder durch Koalitionswechsel aus der Verantwortung gedrängt. Wenn man ihre Regierungszeit betrachtet, wird deutlich, daß ihnen nach spätestens acht Jahren die Kraft ausging. Auch wenn der Verfall noch eine Zeitlang verborgen blieb.

Gescheitert sind allesamt nicht an den Wählern, sondern an den unbewältigten Aufgaben. Helmut Kohl, der „Rekord-Kanzler“, ist der erste Bonner Regierungschef, der sowohl sein Wahlziel nicht erreicht hat als auch seiner Partei eine gewaltige Hypothek ungelöster Probleme hinterläßt.



Quelle: Peter Pragal, „Ende einer Kanzlerschaft“, Berliner Zeitung, 28. September 1998.

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