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Die Qual der Wahl (14. Oktober 1994)

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So erklärt es sich, daß in der Woche vor der Wahl der Amtsinhaber wieder in Führung liegt und der Herausforderer mit hängender Zunge hinter ihm herrennt. Zufälle der Wahlarithmetik, minimale Zeigerausschläge bei der FDP und der PDS mögen am Ende über die Regierungsbildung entscheiden; daher ist alles denkbar und nichts sicher. Eines allerdings läßt sich schwerlich bestreiten: Der Wendenotwendigkeit entspricht nur noch eine geringe Wendebegeisterung. Das Volk ist mit Kohl nicht zufrieden, von Scharping nicht überzeugt.

Nun ließe sich argumentieren: Es radelt sich doch gar nicht schlecht in der deutschen Tiefebene! Trotz aller Widrigkeiten kommt die Bundesrepublik besser zurecht als die meisten Nachbarn. Obendrein erzeugt die anspringende Konjunktur kräftigen Rückenwind. Mit einem Male scheinen Politikverdrossenheit und Pessimismus wie weggeblasen. Katastrophen dräuen nicht am Horizont. Wohl uns, daß wir keine Heroen brauchen!

Die Wirklichkeit ist komplizierter. Gewiß kommen wir heute halbwegs zurecht. Zugleich jedoch türmen sich im wiedervereinten Deutschland gewaltige Probleme vor uns auf.

Der Zustand unserer Staatsfinanzen – Schuldenstand 2000 Milliarden Mark! – ist bedrohlich. Was ist das richtige Rezept: Sparen, Steuern erhöhen, weitere Schulden aufnehmen – oder alles drei zusammen?

Unser System der sozialen Sicherung nähert sich der Grenze seiner Belastbarkeit. Die Gesellschaft wird älter; immer weniger Junge sollen immer mehr Alte erhalten. Dies erfordert die Überprüfung aller bisherigen Annahmen, das Zurechtstutzen der Leistungen aufs Vernünftige, Ehrliche und Finanzierbare – die Neufundierung des Sozialstaates.

Dann gibt es heute in Deutschland de facto sechs Millionen Arbeitslose. Auch der Konjunkturaufschwung wird ihre Zahl nicht merklich verringern. Zwei Faktoren komplizieren die Lage. Einerseits bringt die Globalisierung der Wirtschaft immer mehr Billiglohnländer als Konkurrenz ins Spiel; andererseits bedeutet die notwendige Modernisierung des Produktionsapparates zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zunächst einmal die Vernichtung von Hunderttausenden von alten Arbeitsplätzen. Staat und Gesellschaft müssen Lösungen für die Probleme finden, die von der Rationalität des betriebswirtschaftlichen Denkens geschaffen werden – sonst geht es an die Grundlagen der Demokratie.

Hier sind enorme Kraftanstrengungen vonnöten. Andere Aufgaben kommen hinzu. Die materielle und mentale Wiedervereinigung der Deutschen harrt der Vollendung. Europa braucht Anschub auf seinem Weg zu einer immer engeren Union. Und ein neuer gesellschaftlicher Konsens muß geschmiedet werden: über die Rolle Deutschlands auf der Weltbühne; über das richtige Verhältnis von Ökologie und Ökonomie; über das künftige Zusammenleben von 75 Millionen Deutschen und sieben Millionen Ausländern auf dem Boden der Bundesrepublik. Dabei kommt es weniger auf Kraftakte an als vielmehr auf mutiges Denken.

Die neue Agenda erfordert einen neuen Ansatz. Am Sonntag entscheidet der Wähler darüber, wer ihn verwirklichen soll. Vielen wird die Entscheidung schwerfallen. Was soll einer schon tun, der zwar die Umweltpolitik der Grünen gutheißt, aber ihren Ruf nach Abschaffung der Nato und der Bundeswehr ablehnt? Wo macht sein Kreuz, wer die Außenpolitik bei Klaus Kinkel in schwachen Händen sieht, aber die Ausländerpolitik von Cornelia Schmalz-Jacobsen gutheißt? Wird die Unerfahrenheit des SPD-Kandidaten nicht vielleicht durch die Tatsache aufgewogen, daß Helmut Kohl fortan tatsächlich ein auslaufendes Modell wäre, dem spätestens in der Mitte der Legislaturperiode – seiner Endphase – die Zügel entgleiten oder entrissen werden?

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