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Deutsche Einheit im Mittelpunkt (30. Januar 1991)

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Mit der Wiedergewinnung der vollen Souveränität wächst uns Deutschen nicht nur mehr Handlungsfreiheit, sondern auch mehr Verantwortung zu. So sehen es auch unsere Partner in der Welt. Sie erwarten vom vereinten Deutschland, daß es dieser neuen Rolle gerecht wird. Es geht dabei überhaupt nicht um nationale Alleingänge oder gar Machtambitionen; denn für uns gibt es auf dieser Welt nur einen Platz: in der Gemeinschaft der freien Völker. Gefordert sind jetzt mehr denn je Vernunft und Augenmaß und vor allem auch das Festhalten an den Zielen, die wir uns vorgenommen haben. Wir alle wissen, wir stehen am Beginn eines langen und auch beschwerlichen Weges: Wir wollen Deutschland zusammenführen, und zwar in jeder Hinsicht: geistig-kulturell, wirtschaftlich und sozial. Wir wollen mitwirken am Bau einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung für Europa, die alle Völker unseres so lange geteilten Kontinents in gemeinsamer Freiheit zusammenführt. Wir wollen an einer Weltfriedensordnung mitarbeiten, die auf die Herrschaft des Rechts gegründet ist: auf die Achtung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts aller Völker sowie auf den gemeinsamen Willen zur Bewahrung der dem Menschen anvertrauten Schöpfung.

Wir sind dankbar, daß wir Deutschen diesen Weg in die Zukunft seit dem 3. Oktober 1990 gemeinsam gehen können. Für jedermann erkennbar, hat es sich als ein großer Vorteil erwiesen, daß die staatliche Wiedervereinigung Deutschlands noch vor der Zuspitzung der gegenwärtigen Konflikte vollendet werden konnte. Die vor uns liegenden Aufgaben sind schwierig, und wir alle können die Sorgen der Menschen in den neuen Bundesländern gut verstehen – Sorgen um den Arbeitsplatz, um die Zukunft, Sorgen aber auch um den schlimmen Zustand der Umwelt. Wirtschaftliche, soziale und ökologische Fragen sind jetzt dringlich, aber sie sind wahrlich nicht die einzigen, die wir lösen müssen. Es wird lange dauern, bis die immateriellen Schäden aus der Zeit der SED-Diktatur beseitigt sind. Ich denke vor allem an die schwerwiegenden Folgen, die über vier Jahrzehnte kommunistischer Diktatur im geistigen Leben und auch in den Seelen der Menschen hinterlassen haben. In freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden – dieser Auftrag unseres Grundgesetzes von 1949 ist jetzt im staatsrechtlichen Sinne erfüllt. Es geht nun darum, diese Einheit zu gestalten. Unser Ziel ist klar: Wir wollen für alle Menschen in ganz Deutschland gleiche Lebenschancen gewinnen.

Zugleich, meine Damen und Herren, geht es darum, mit aller Kraft an die zweite große Aufgabe heranzugehen, zu der uns das Grundgesetz verpflichtet: das vereinte Europa zu schaffen, nämlich die politische Einigung Europas. Unsere Verfassung trägt uns auf, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. In der Tat: Wir dienen dem Frieden der Welt am wirkungsvollsten, indem wir die politische Einigung Europas beherzt und energisch vorantreiben. Weder das vereinte Deutschland noch das immer mehr zusammenwachsende Europa können es sich leisten, den sich auftürmenden Problemen in anderen Regionen der Welt mit Gleichgültigkeit zu begegnen.

Alle diese Probleme berühren uns unmittelbar. Indem wir gemeinsam zur Lösung beitragen, erfüllen wir nicht nur eine moralische Pflicht, sondern wir handeln auch im wohlverstandenen Eigeninteresse. Europa wächst jetzt zusammen auf dem Fundament jener Werte, die durch Christentum und Aufklärung geprägt worden sind. Aber für einen selbstgefälligen Eurozentrismus bei uns im Westen besteht heute weniger Berechtigung denn je. Deutlicher denn je zeigt sich in diesen Tagen und Wochen, wie eng unser Schicksal mit den Entwicklungen in unserer Nachbarschaft verbunden ist – im Osten unseres Kontinents wie auch im Nahen und Mittleren Osten. Deutschland und Europa, meine Damen und Herren, werden nur gedeihen, wenn sie sich weder kulturell noch wirtschaftlich nach außen abschotten, sondern bereit bleiben, von anderen zu lernen und vor allem einem friedlichen Wettbewerb nicht aus dem Wege gehen. Nationale Eigensucht während dieser Zeit wäre nicht zuletzt ein Zeugnis groben Undanks gegenüber jenen Partnern und Freunden, die jahrzehntelang unsere Freiheit geschützt und uns vor allem auch bei der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes tatkräftig geholfen haben. Ich nenne hier insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und Großbritannien.

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