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Erste gesamtdeutsche Wahl (30. November 1990)

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Versetzen wir uns nur zurück ins Frühjahr 1989. Damals bedurfte es des Schocks erster Wahlerfolge der Republikaner, um alle anderen Parteien der Tatsache gewahr werden zu lassen: In der Bundesrepublik bildet sich wenn schon nicht eine „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ aus, so doch eine Gesellschaft, in der die große Mehrheit der aufgestiegenen Besserverdienenden jene Minderheit vergißt, die in den beschleunigten Modernisierungsprozessen unserer Industriegesellschaft weder geistig noch gesellschaftlich mithalten kann. Das Ausfransen am rechten Rand war in Wirklichkeit mehr ein Problem von Oben und Unten. Die Partei der Republikaner ist binnen kurzer Zeit in sich zusammengesackt, aber das Problem hat sich nicht aufgelöst.

Im Gegenteil: Die Einheit hat die Schwierigkeiten nicht revidiert, sondern potenziert. Zur Oben-Unten-Schichtung im Westen der Republik ist nun noch eine weitere Kluft getreten: jene zwischen den 62 Millionen, die im Westen leben, und den 16 Millionen in den fünf neuen Bundesländern. Die sozialen Spannungen in der Bevölkerung der größer gewordenen Bundesrepublik nehmen also zu.

Schon im Frühjahr 1989 waren die Verteilungskonflikte am unteren Rand der Gesellschaft durch den Zustrom von Asylbewerbern, von Aus- und Übersiedlern zugespitzt worden. Solange der Kalte Krieg und mit ihm die Teilung Europas währten, konnte die europäische Wohlstandsgrenze hinter Mauer und Stacheldraht aufrechterhalten und verborgen werden. Bei offenen politischen Grenzen freilich lassen sich soziale Grenzen nicht mehr bequem zementieren.

In den letzten Jahren ist immer wieder das Ende des „sozialdemokratischen Zeitalters“ verkündet worden. Aber mit dem Mißerfolg einer Partei ist das Problem sozialer Gerechtigkeit noch keineswegs erledigt. Der gerechte Ausgleich bleibt eine politische Daueraufgabe; auch der Ausgleich zwischen den Ansprüchen der Gegenwart und denen künftiger Generationen, etwa auf dem Gebiet des Umweltschutzes. Das „solidarische Zeitalter“ muß erst noch richtig anfangen.

Von all diesen Dingen war im zurückliegenden Wahlkampf wenig die Rede. Das epochale Ereignis der deutsch-deutschen Vereinigung hat alle politischen Sinne gefangengenommen. Doch mit den historischen Ereignissen hat es nun erst einmal sein Ende. Keine Rede davon, daß es künftig keine gesellschaftlichen Konflikte und folglich keine parteipolitischen Alternativen mehr gäbe. Nur weiter so – das jedenfalls kann die Antwort bestimmt nicht für lange sein.



Quelle: Robert Leicht, „Bleibt einfach alles, wie es ist. Vor der Bundestagswahl: Auch ohne Regierungswechsel kommt der Themenwechsel“, Die Zeit, 30. November 1990.

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