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Erste gesamtdeutsche Wahl (30. November 1990)

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Oskar Lafontaine, der Kanzlerkandidat der SPD, ist zwei fundamentalen Fehleinschätzungen erlegen. Zum einen hat er sich in seiner Art des historischen Materialismus schlicht verrechnet. Als er die „Kosten der Einheit“ selbst in der letzten Debatte des alten Bundestages zum Solo- und Horror-Thema machte, stieß er nicht nur die Bürger in der vormaligen DDR vor den Kopf; er unterschätzte außerdem die Tatsache, daß auch bei den westlichen Wohlstandsdeutschen das Gefühl der Zusammengehörigkeit und die Erleichterung über das Ende von Diktatur und Teilung per saldo stärker waren als die Angst ums liebe Geld. Die Unausweichlichkeit von Opfern – in welcher Form auch immer, als Steuern, Abgaben, steigende Zinsen – war den Bürgern von Anfang an so klar gewesen, daß sie des Kanzlers gegenteiliger Versicherung nie wirklich Glauben geschenkt haben.

Zum anderen aber hat sich Lafontaine in der Annahme getäuscht, er könne nur gegen den Kanzler antreten, wenn er partout das Gegenteil der Regierungspolitik verkündet und sich jedem Ansatz eines „harmonisierenden“, gar nationalen Konsenses entzieht. Darin ging der Kandidat so weit, daß er schließlich vergaß, was die SPD selber ursprünglich gefordert hatte: die zügig herbeizuführende Währungsunion noch vor der staatlichen Einheit.

Mag sein, daß auch eine andere Strategie den Kanzler nicht aus dem Sattel gehoben hätte. Aber die SPD wäre gewiß nicht derart fatal ins Abseits geraten, und die Seele der Partei wäre intakt geblieben. So jedoch war Oskar Lafontaine der erste sozialdemokratische Kanzlerkandidat, der in seiner Kampagne ausschließlich auf taktische Manöver und verborgene Ängste setzte. Daß Lafontaine damit nicht ankommt, stellt dem Durchschnittswähler ein ordentliches Zeugnis aus. Daß der SPD-Kandidat den Versuch gleichwohl unternehmen konnte, war ohne die fundamentalen Kalamitäten seiner Partei nicht denkbar. Wer sonst hätte denn an seiner Stelle kandidieren sollen?

Die SPD war in der deutschen Frage seit der DDR-Wende zutiefst gespalten. Willy Brandt, der verhindern wollte, daß die Sozialdemokraten in der „nationalen Frage“ auf der Strecke bleiben, und Oskar Lafontaine, der einen etwas aufgesetzten Internationalismus dagegenstellte – das war keine Doppelstrategie, sondern die personifizierte Glaubenslücke der gesamten Partei, die der Vorsitzende Vogel beim besten Willen nicht überbrücken konnte.

Eine alte Faustregel besagt, niemals gewinne die Opposition eine Wahl, allenfalls verliere sie die Regierung. Dieses Mal läßt sich der Satz umdrehen. Die Opposition – so sah es in der Woche vor der Wahl aus – hat mehr verloren als die Regierung gewonnen.

Muß aber deshalb alles so bleiben, wie es ist? Wird es selbst auf mittlere Sicht keine Alternativen geben?

Keineswegs. Auch ohne Regierungswechsel kommt der Themenwechsel. Die deutsche Frage ist nun ein für allemal beantwortet. Aus den Höhen der in ihren großen Zügen überschaubaren Deutschlandpolitik geht es nun zurück in die Niederungen der politischen Unübersichtlichkeit, auch der diffusen Parteikonstellationen. War das Ende der Teilung für uns Deutsche in erster Linie ein Stück Vergangenheitsbewältigung, die Löschung einer lastenden Hypothek, so rücken nun die Zukunftsfragen unserer Gesellschaft wieder nach vorn, auch die verdrängten Probleme. Nach der ersten gesamtdeutschen Wahl ist der politische Wettbewerb wieder offen.

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