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Hoffnungen und Befürchtungen am Vorabend der Osterweiterung (26. April 2004)

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Der 1. Mai 2004 markiert eine historische Zäsur: Die europäische Teilung gehört der Vergangenheit an und damit auch das alte Europa mit all seinen Ritualen und bequemen Gewohnheiten.

Nun wächst zusammen, was – historisch und kulturell – zusammengehört. Mit einem Schlag vermehrt die EU die Zahl ihrer Einwohner von 380 Millionen auf über 450 Millionen. Im neuen Europa werden mehr Menschen leben als in den Vereinigten Staaten von Amerika und Japan zusammen.

Nun soll sich aber auch zusammenfügen, was – vor allem wirtschaftlich – gegensätzlicher kaum sein kann: Die saturierten Wohlstandsstaaten des alten Europa und die jungen Aufsteiger, die noch immer schwer an der Last ihrer staatskapitalistischen Vergangenheit zu tragen haben. Das birgt Chancen – und jede Menge Gefahren.

Die Freude über das epochale Ereignis, das viele Jahrzehnte lang undenkbar schien, wird jedenfalls vielerorts getrübt durch die Angst vor den ökonomischen Folgen. Plötzlich nämlich gehören jene Staaten zur EU, die sich in den vergangenen Jahren als größte Konkurrenten gerade des Standorts Deutschland profilierten. Die mit Billiglöhnen, flexiblen Arbeitern und Dumping-Steuern Unternehmen mitsamt ihren Arbeitsplätzen abwarben.

Ab dem 1. Mai fallen weitere Hindernisse, die gerade kleinere und mittlere Unternehmen bisher noch zögern ließen, dem Drang nach Osten zu folgen. Stufenweise werden jenseits der Oder die gleichen Rechte und Normen eingeführt. Die Währungen sollen innerhalb eines festen Korridors um den Euro schwanken, bis dann schließlich, beginnend frühestens in zwei Jahren, in Osteuropa nach und nach die europäische Einheitswährung eingeführt wird.

Rechtssicherheit, Währungsstabilität und, für außereuropäische Investoren wichtig, der freie Zugang zum europäischen Markt – das macht die Beitrittsländer, neben niedrigen Lohnkosten und Steuern, für Unternehmen besonders attraktiv. Und für den Standort Deutschland besonders gefährlich.

Wird Deutschland also zu den Verlierern der großen EU-Erweiterung zählen, weil die Arbeit in bisher unbekanntem Ausmaß abwandert?

Ja, sagen Pessimisten wie der Münchner Professor Hans-Werner Sinn, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo), er prophezeit eine lang anhaltende Niedriglohnkonkurrenz. Das aber bedeutet niedrigere Einkommen, weniger Wachstum und Wohlstand: Eine Spirale nach unten käme in Gang.

Nein, sagen Optimisten wie der Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, er prophezeit eine „Win-win-Situation“, also eine Entwicklung, von der alle profitieren, die Beitrittsländer und die etablierten Industriestaaten, allen voran Deutschland.

Nach dieser Theorie treibt das Wachstum in Osteuropa die gesamte europäische Wirtschaft an: durch vermehrte Exporte in die aufstrebenden Länder und auch durch die Verlagerung von Jobs. Mit im Ausland produzierten Zulieferungen für die deutschen Konzerne bleiben deren weltweit begehrte „Made in Germany“-Produkte überhaupt erst wettbewerbsfähig.

Die bisherige Entwicklung stützt die These der Optimisten. Die Öffnung Osteuropas erwies sich für die deutsche Wirtschaft als Glücksfall, sie eroberte neue Märkte und erschloss sich kostengünstige Zulieferungen. Hunderttausende Arbeitsplätze wurden so geschaffen oder gesichert – hier zu Lande wohlgemerkt.

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