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Europa und die USA (31. Mai 2003)

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Das aus der Französischen Revolution hervorgegangene Parteiensystem ist oft kopiert worden. Aber nur in Europa dient es auch einem ideologischen Wettbewerb, der die sozialpathologischen Folgen der kapitalistischen Modernisierung einer fortgesetzten politischen Bewertung unterzieht. Das fördert die Sensibilität der Bürger für Paradoxien des Fortschritts. Im Streit der konservativen, liberalen und sozialistischen Deutungen geht es um die Abwägung von zwei Aspekten: Überwiegen die Verluste, die mit der Desintegration schützender traditionaler Lebensformen eintreten, die Gewinne eines schimärischen Fortschritts? Oder überwiegen die Gewinne, die die Prozesse schöpferischer Zerstörung heute für morgen in Aussicht stellen, die Schmerzen der Modernisierungsverlierer?

In Europa sind die lange nachwirkenden Klassenunterschiede von den Betroffenen als ein Schicksal erfahren worden, das nur durch kollektives Handeln abgewendet werden konnte. So hat sich im Kontext von Arbeiterbewegungen und christlich-sozialen Überlieferungen ein solidaristisches, auf gleichmäßige Versorgung abzielendes Ethos des Kampfes für „mehr soziale Gerechtigkeit“ gegen ein individualistisches Ethos der Leistungsgerechtigkeit durchgesetzt, das krasse soziale Ungleichheiten in Kauf nimmt.

Das heutige Europa ist durch die Erfahrungen der totalitären Regime des zwanzigsten Jahrhunderts und durch den Holocaust – die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden, in die das NS-Regime auch die Gesellschaften der eroberten Länder verstrickt hat – gezeichnet. Die selbstkritischen Auseinandersetzungen über diese Vergangenheit haben die moralischen Grundlagen der Politik in Erinnerung gerufen. Eine erhöhte Sensibilität für Verletzungen der persönlichen und der körperlichen Integrität spiegelt sich unter anderem darin, daß Europarat und EU den Verzicht auf die Todesstrafe zur Beitrittsbedingung erhoben haben.

Eine bellizistische Vergangenheit hat einst alle europäischen Nationen in blutige Auseinandersetzungen verstrickt. Aus den Erfahrungen der militärischen und geistigen Mobilisierung gegeneinander haben sie nach dem Zweiten Weltkrieg die Konsequenz gezogen, neue supranationale Formen der Kooperation zu entwickeln. Die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union hat die Europäer in der Überzeugung bestärkt, daß die Domestizierung staatlicher Gewaltausübung auch auf globaler Ebene eine gegenseitige Einschränkung souveräner Handlungsspielräume verlangt.

Jede der großen europäischen Nationen hat eine Blüte imperialer Machtentfaltung erlebt und, was in unserem Kontext wichtiger ist, die Erfahrung des Verlusts eines Imperiums verarbeiten müssen. Diese Abstiegserfahrung verbindet sich in vielen Fällen mit dem Verlust von Kolonialreichen. Mit dem wachsenden Abstand von imperialer Herrschaft und Kolonialgeschichte haben die europäischen Mächte auch die Chance erhalten, eine reflexive Distanz zu sich einzunehmen. So konnten sie lernen, aus der Perspektive der Besiegten sich selbst in der zweifelhaften Rolle von Siegern wahrzunehmen, die für die Gewalt einer oktroyierten und entwurzelnden Modernisierung zur Rechenschaft gezogen werden. Das könnte die Abkehr vom Eurozentrismus befördert und die kantische Hoffnung auf eine Weltinnenpolitik beflügelt haben.



Quelle: Jacques Derrida und Jürgen Habermas, „Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas,“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Mai 2003, S. 33f. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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