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Europa und die USA (31. Mai 2003)

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Während der bleiernen Monate vor Ausbruch des Irak-Krieges hatte eine moralisch obszöne Arbeitsteilung die Gefühle aufgewühlt. Die logistische Großoperation des unaufhaltsamen militärischen Aufmarschs und die hektische Betriebsamkeit der humanitären Hilfsorganisationen griffen wie Zahnräder präzise ineinander. Das Spektakel vollzog sich ungerührt auch vor den Augen der Bevölkerung, die – jeder eigenen Initiative beraubt – das Opfer sein würde. Kein Zweifel, die Macht der Gefühle hat Europas Bürger gemeinsam auf die Beine gebracht. Aber gleichzeitig hat der Krieg den Europäern das längst angebahnte Scheitern ihrer gemeinsamen Außenpolitik zu Bewußtsein gebracht. Wie in aller Welt hat der burschikose Bruch des Völkerrechts auch in Europa einen Streit über die Zukunft der internationalen Ordnung entfacht. Aber uns haben die entzweienden Argumente tiefer getroffen.

Über diesem Streit sind die bekannten Bruchlinien nur um so schärfer hervorgetreten. Die kontroversen Stellungnahmen zur Rolle der Supermacht, zur künftigen Weltordnung, zur Relevanz von Völkerrecht und UN haben die latenten Gegensätze offen ausbrechen lassen. Die Kluft zwischen kontinentalen und angelsächsischen Ländern auf der einen, dem „alten Europa“ und den mittelosteuropäischen Beitrittskandidaten auf der anderen Seite hat sich vertieft. In Großbritannien ist die special relationship zu den Vereinigten Staaten keineswegs unumstritten, aber nach wie vor steht sie in der Präferenzordnung von Downing Street ganz oben. Und die mittelosteuropäischen Länder streben zwar in die EU, ohne jedoch schon bereit zu ein, ihre eben erst gewonnene Souveränität wieder einschränken zu lassen. Die Irak-Krise war nur der Katalysator. Auch im Brüsseler Verfassungskonvent zeigt sich der Gegensatz zwischen den Nationen, die eine Vertiefung der EU wirklich wollen, und denen, die ein verständliches Interesse daran haben, den bestehenden Modus des intergouvernementalen Regierens einzufrieren oder bestenfalls kosmetisch zu verändern. Nun kann der Gegensatz nicht länger überspielt werden.

Die künftige Verfassung wird uns einen europäischen Außenminister bescheren. Aber was hilft ein neues Amt, solange sich die Regierungen nicht auf eine gemeinsame Politik einigen? Auch ein Fischer mit veränderter Amtsbezeichnung bliebe machtlos wie Solana. Einstweilen sind wohl nur die kerneuropäischen Mitgliedstaaten bereit, der EU gewisse staatliche Qualitäten zu verleihen. Was tun, wenn sich nur diese Länder auf eine Definition „eigener Interessen“ einigen können? Wenn Europa nicht auseinanderfallen soll, müssen diese Länder jetzt von dem in Nizza beschlossenen Mechanismus der „verstärkten Zusammenarbeit“ Gebrauch machen, um in einem „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anfang zu machen. Davon wird eine Sogwirkung ausgehen, der sich die anderen Mitglieder – zunächst in der Eurozone – nicht auf Dauer werden entziehen können. Im Rahmen der künftigen europäischen Verfassung darf und kann es keinen Separatismus geben. Vorangehen heißt nicht ausschließen. Das avantgardistische Kerneuropa darf sich nicht zu einem Kleineuropa verfestigen; es muß – wie so oft – die Lokomotive sein. Die enger kooperierenden Mitgliedstaaten der EU werden schon aus eigenem Interesse die Türen offenhalten. Durch diese Türen werden die Eingeladenen um so eher eintreten, je früher Kerneuropa auch nach außen handlungsfähig wird und beweist, daß in einer komplexen Weltgesellschaft nicht nur Divisionen zählen, sondern die weiche Macht von Verhandlungsagenden, Beziehungen und ökonomischen Vorteilen.

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