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Europäische Föderation (12. Mai 2000)

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Mir sind nun die institutionellen Probleme im Hinblick auf die jetzige EU durchaus bewußt, die ein solches Gravitationszentrum mit sich bringen würde. Deshalb würde es entscheidend darauf ankommen, sicherzustellen, daß das in der EU Erreichte nicht gefährdet, diese nicht gespalten und das die EU zusammenhaltende Band weder politisch noch rechtlich beschädigt werden darf. Es müßten Mechanismen entwickelt werden, die eine Mitarbeit des Gravitationszentrums in der größeren EU ohne Reibungsverluste erlauben.

Die Frage, welche Staaten sich an einem solchen Projekt beteiligen, die EU-Gründungs-, die Euro11-Mitglieder oder noch eine andere Gruppe, läßt sich heute unmöglich beantworten. Bei jeder Überlegung über die Option Gravitationszentrum muß eines klar sein: diese Avantgarde darf niemals exklusiv, sondern muß für alle Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten der EU offen sein, wenn diese zu einem bestimmten Zeitpunkt teilnehmen wollen. Für alle diejenigen, die teilnehmen wollen, aber dazu die Bedingungen nicht haben, muß es Heranführungsmöglichkeiten geben. Transparenz und eine Mitwirkungsoption für alle EU-Mitglieder und –kandidaten wären wesentliche Faktoren für die Akzeptanz und Realisierbarkeit des Projekts. Und dies muß gerade auch gegenüber den Beitrittsländern gelten. Denn es wäre historisch absurd und zutiefst töricht, wenn Europa just zu dem Zeitpunkt, wo es endlich wieder vereint wird, erneut gespalten würde.

Ein solcher Gravitationskern muß also ein aktives Erweiterungsinteresse haben und er muß Attraktivität für die anderen Mitglieder ausstrahlen. Folgt man dem Grundsatz von Hans Dietrich Genscher, daß kein Mitgliedstaat gezwungen werden kann, weiter zu gehen, als er es kann oder wünscht, aber daß derjenige, der nicht weitergehen möchte, auch nicht die Möglichkeit hat, die anderen daran zu hindern, dann wird sich die Gravitation innerhalb der Verträge herausbilden, ansonsten außerhalb.

Der letzte Schritt wäre dann die Vollendung der Integration in einer Europäischen Föderation. Damit wir uns nicht mißverstehen: von der verstärkten Zusammenarbeit führt kein Automatismus dorthin, egal ob als Gravitationszentrum oder gleich als Mehrheit der Unionsmitglieder. Die verstärkte Zusammenarbeit wird zunächst vor allem nichts anderes als eine verstärkte Intergouvernementalisierung angesichts des Drucks der Fakten und der Schwäche der Methode Monnet bedeuten. Der Schritt von der verstärkten Zusammenarbeit hin zu einem Verfassungsvertrag – und genau dies wird die Voraussetzung der vollen Integration sein – bedarf dagegen eines bewußten politischen Neugründungsaktes Europas.

Dies, meine Damen und Herren, ist meine persönliche Zukunftsvision: Von der verstärkten Zusammenarbeit hin zu einem europäischen Verfassungsvertrag und die Vollendung von Robert Schumans großer Idee einer Europäischen Föderation. Dies könnte der Weg sein!



Quelle: „Bundesaußenminister Fischer: Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration“, Bulletin [Presse- und Informationsamt der Bundesregierung], Nr. 29 vom 24. Mai 2000, Dokument Nr. 29-1 [CD-ROM-Version].

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