GHDI logo

Eine schlagkräftige europäische Verteidigung? (28. Dezember 1999)

Seite 2 von 3    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Nicht eine Hilfskraft für Randfälle wird gebraucht

Entlastung vor allem sucht Amerika für die nahe Zukunft durch militärische Mitwirkung europäischer Partner auch außerhalb Europas für internationale Sicherheit durch ein Potenzial, das ins Gewicht fällt. Washington sucht eine europäische Kraft an seiner Seite im Brennpunkt des Geschehens einer Krise, aber keine marginale Hilfskraft für Randfälle und leichtere Aufgaben. Solange die europäischen Nato-Partner mit sechzig Prozent des amerikanischen Verteidigungshaushalts und mehr Truppen, als Amerika weltweit unter den Fahnen hat, nur etwa zehn bis zwanzig Prozent der operativen Fähigkeiten der amerikanischen Streitkräfte im Kampfeinsatz aufbringen können, solange die amerikanischen Kampfflugzeuge wie 1999 über Serbien mit dem Kosovo fünfundachtzig bis neunzig Prozent aller Luftangriffe ausführen müssen, solange neunzig Prozent aller technischen Hauptsysteme für strategische Aufklärung, Luftraumkontrolle, satellitäre Kommunikation, Ortung am Boden und Informationsverarbeitung der Nato (wie in Bosnien 1995 bis 1998 für die Ifor/Sfor) bei den Vereinigten Staaten liegen, so lange wird weder in der Nato noch außerhalb eine ungefähre „Balance“ des militärischen Engagements möglich sein.

Wenn aber der französische Verteidigungsminister Richard von einem „langfristigen Gleichgewicht“ in der Allianz als Folge der militärischen Erstarkung der EU in der Rolle eines „selbständigen Akteurs auf der internationalen Bühne“ spricht, dann bedarf ein solcher Satz der Ergänzung: Es geht um Kräftekonzentration auf die schwereren Aufgaben, nicht auf die leichteren. Hier liegt der Prüfstein für europäische Handlungsfähigkeit in ernsten Krisen, solchen mit großem Eskalationspotenzial und hohem Konfliktrisiko, etwa in Jugoslawien 1991 bis 1992, als Europa wie Amerika vor der militärischen Konfrontation zurückscheuten und den eskalierenden Konflikt bis 1995 sich selber überließen.

Mehrere europäische Länder, darunter fast alle EU-Staaten (auch Deutschland seit 1994), allen voran Frankreich und Britannien, beide jeweils mit Truppenkontingenten einer Grosse schwankend um die 10 000, waren an der nahezu wehrlosen UN-Schutztruppe in Bosnien beteiligt, die meist von europäischen Generalen befehligt wurde. Die meisten europäischen Kontingente, so das französische, hatten nicht einmal gepanzerte Transporthubschrauber zur Truppenverlegung über dem Gefechtsfeld; sie konnten darum weder Srebrenica noch Tuzla oder Gorazde gegen die serbische Boden-Flugabwehr erreichen: Die westliche Luftüberlegenheit mit Jagdbombern konnte dafür so lange nicht zur Geltung kommen, wie die UN keine Luftangriffe freigaben. Leichte europäische Bodentruppen wären dazu nicht fähig gewesen, geschweige denn zu den Offensiven, mit denen im Sommer 1995 die Kroaten und Bosniaken den bosnischen Serben die ersten schweren Niederlagen beibrachten und die strategische Wende im bosnischen Krieg herbeiführten, damit der späteren alliierten Intervention erst den Boden bereiteten. Auch die Nato-Luftstreitkräfte hätten diese Wende in den elf Tagen ihrer Luftangriffe auf serbische Ziele in Bosnien nicht allein erzwingen können.

50 000 bis 60 000 Soldaten zur Krisenbeherrschung im Einsatz erfordern eine ebenso große Reserve in Bereitstellung zur Ablösung nach vier bis sechs Monaten, also wenigstens 120 000 Mann als Verfügungstruppe, dazu die geeigneten Transportmittel und eine bewegliche Logistik zur nachhaltigen Unterstützung auch aus der Luft und über See. Dazu müssten die EU-Partner für ihr geplantes Krisenreaktionskorps gemeinsame Materialdepots und eine zentrale Logistiksteuerung, gemeinsame Haushaltsmittel und Transportkapazitäten mit technischer Arbeitsteilung aufbauen. Standardisierung des Geräts und der Munition für uneingeschränkte Interoperabilität ist eine Voraussetzung, zumal 300 bis 500 Kampfflugzeuge vorgesehen sind: Ohne die Nato-Standardisierung wird dafür keine Interoperabilität möglich sein. Dabei müssen Schnittflächen mit der Technik und Logistik der amerikanischen Streitkräfte geschaffen und erhalten werden, schon um die früher erreichte Nato-Standardisierung in Europa nicht weiter abzubauen. Hier ist insbesondere Frankreich gefordert, das noch immer außerhalb der Nato-Militärkooperation verharrt. Wenn sie militärisch in der EU mitwirken wollten, müssten Schweden, Finnland, Österreich und Irland sich in einen weiteren Nato-Rahmen für operative Verfahren, Standardisierung der Ausrüstung, Interoperabilität ihrer Truppen, für eine kompatible Kommandostruktur der Nato einordnen und anpassen, so wie dies in Bosnien in der Sfor und im Kosovo in der Kfor schon im Ansatz versucht wird.

Die EU braucht Eingreifkräfte, die notfalls auch ohne Mitwirkung der amerikanischen und ohne Einsatz des großen Nato-Apparates eskalationsfähig auf einem Konfliktschauplatz sind. Die weniger kritischen militärischen Missionen können dann mit weniger militärischen Mitteln erfüllt werden, solange die abschreckende Kraft sichtbar einsatzbereit in Reserve bleibt. Es gilt der französische Erfahrungssatz: „Wer mehr kann, kann auch weniger.“ Nur so könnte die von Nato-Generalsekretär Robertson im Dezember 1999 in Brüssel erhobene Forderung, „das militärische Ungleichgewicht zu den Vereinigten Staaten zu korrigieren“, von den Europäern wirklich erfüllt werden. Aber auch die von Washington mit Nachdruck in Brüssel erhobene Forderung nach dem Aufbau eines Flugkörperabwehrsystems der Nato für Europa zur Abschirmung gegen das wachsende Raketenangriffspotenzial etwa im Mittleren Osten, das der Nordatlantikrat schon im November 1991 als neues Risiko identifizierte, müsste in Nato-Europa, also von den EU-Partnern, endlich ernst genommen werden. Davon kann auch nach der Brüsseler Außenministertagung noch nicht die Rede sein.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite