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Die Bundesrepublik in Mittel- und Osteuropa (17. Februar 1995)

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Erst in der jüngeren Vergangenheit, das heißt in den letzten beiden Jahrhunderten, hat das tschechisch-deutsche oder deutsch-tschechische Verhältnis seine dramatische, mitunter fast peinigende Gestalt angenommen, als es zunehmend von der nationalen Dimension oder vom nationalen Gehalt geprägt wurde. Durch diese moderne Erfahrung wird oft die Tatsache verdeckt oder überschattet, daß es in der früheren Geschichte eine viel längere Erfahrung gegeben hatte, die gekennzeichnet ist von einer besonderen Art schöpferischen Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen in einem Staatsgebilde.

Selbstverständlich war das Zusammenleben auch damals nicht immer einfach oder idyllisch, doch ging es bei den verschiedensten Konfrontationen, die später als rein nationale Konfrontationen hingestellt wurden, in Wahrheit um ganz andere Dinge als darum, wer welchem Volk angehörte. Jene Auseinandersetzungen drehten sich um Religion, um Ideen oder Ideologien, um Macht, um soziale oder andere Fragen, und obwohl es in einigen Fällen auch eine Rolle spielte, woher die Beteiligten stammten oder welche Sprache sie sprachen, trat die unterschiedliche nationale Gesinnung in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen, nicht als Beweggrund auf. Jahrhundertelang haben sich hier die beiden Elemente und auch noch das jüdische Element in vielerlei Hinsicht miteinander vermischt, haben einander inspiriert und beeinflußt, so daß man gar von einer Art Symbiose sprechen kann. Die verschiedensten Zusammenstöße haben diese Koexistenz weder gefährdet noch deren Ende signalisiert; im Gegenteil, sie haben ihre Geschichte mitgestaltet und mehr als einmal sogar stimulierend auf die politischen und kulturellen Leistungen der gesamten in unserem Lande lebenden Gemeinschaft gewirkt. Diese spezifische Gemeinschaft stellte de facto das wahre Subjekt der böhmischen Geschichte dar, wenn auch die tschechische Bevölkerung immer die Mehrheit unter den Einwohnern hatte. Auch die internationale Stellung des Königreichs Böhmen hat sich letztlich lange Zeit von dem unterschieden, was der gegenwärtigen Stellung eines Nationalstaates entsprechen würde: es handelte sich um ein besonderes, einflußreiches Gebilde innerhalb eines universalistisch aufgefaßten Heiligen Römischen Reiches, wobei für die Bedeutung dieses Gebildes nicht die Anzahl der Angehörigen seines Mehrheitsvolkes, sondern ganz andere historische Grunde ausschlaggebend waren. Unter letzteren spielte zweifelsohne seine – wie man es heute nennen würde – multikulturelle Natur eine Rolle. Die bedeutende Stellung der böhmischen Könige im Kurfürstenkollegium ist ein sprechender Beweis dafür.

Der einzigartige Verlauf des beinahe tausendjährigen Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen in unserem Lande bleibt, obgleich es während der letzten beiden Jahrhunderte immer schwieriger wurde und schließlich ein Ende fand, ein integraler Bestandteil unserer Geschichte und dadurch auch unserer heutigen Identität als Bürger der Tschechischen Republik und stellt einen Wert dar, den wir nicht vergessen dürfen. Unter anderem auch deswegen nicht, weil es – mit ein klein wenig Übertreibung gesagt – ein sehr moderner Wert ist, der auch bei der Gestaltung der neuen tschechisch-deutschen Beziehung Vorbildfunktion haben kann.

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Diejenigen, die aus unserem Land einst vertrieben oder ausgesiedelt wurden, sowie deren Nachkommen sind bei uns willkommen, genau wie alle Deutschen hier willkommen sind. Sie sind willkommen als Gäste, die das Land in Ehren halten, in dem Generationen ihrer Vorfahren gelebt haben, die die Stätten betreuen, an die sie sich gebunden fühlen, und als Freunde mit unseren Bürgern zusammenarbeiten. Vielleicht trennt uns keine große Entfernung mehr von den Tagen, wenn Tschechen und Deutsche – nachdem sie sich in dem nach innen offenen Raum der Europäischen Union zusammengefunden haben – in der Lage sind, sich ohne Hindernisse überall auf deren Gebiet niederzulassen und an dem Aufbau ihres so erwählten Heimatortes teilzunehmen. Ein gutes Verhältnis unter Völkern, und daher auch unsere Versöhnung, kann nur der Zusammenarbeit freier Bürger entspringen, die der Versuchung widerstehen, sich unter kollektiven Bannern zu scharen und in deren Schatten die Geister der Stammesfehden wieder heraufzubeschwören.

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