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Ein türkisch-deutscher Schriftsteller über Wege zur Überwindung der türkisch-deutschen Trennung (22./23. August 1998)

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Der Berliner Innensenator Jörg Schönbohm nimmt die Situation allerdings ganz anders wahr. Er spricht von Ghettos, von Stadtteilen mit mehrheitlicher ausländischer Bevölkerung, die man austrocknen müsse. In diesen „Quartieren” habe man das Gefühl, sich nicht mehr in Deutschland aufzuhalten. Er sei für die Vielfalt der Kulturen, behauptet der Senator.

Eine multikulturelle Gesellschaft aber bedeute für ihn eine Form des Zusammenlebens, bei der sich die Kulturen auflösten. So ähnlich argumentieren auch türkische Fundamentalisten, die die Reinheit ihrer Kultur in Deutschland bedroht sehen.

Das Überleben von Gemeinschaften in Zukunft wird von ihrer interkulturellen Kompetenz abhängen. Diese basiert auf einer emotionalen und intellektuellen Fähigkeit, im eigenen Haus Räume für den Anderen zu schaffen, Ängste, die mit einer solchen Umräumung zusammenhängen, zu kontrollieren und zu bannen. An dieser Kompetenz mangelt es in Deutschland.

Dabei müßte die vorrangige Aufgabe der geistigen und politischen Eliten in Deutschland lauten, Gedanken und Modelle zu entwickeln, die die interkulturelle Kompetenz in der deutschen Gesellschaft stärken.

Zunächst einmal müßte eine weitverbreitete Befürchtung ausgeräumt werden: Der Aufbau einer interkulturellen Kompetenz führt nicht zum Zerfall von Gemeinschaften. Andere Kulturen als gleichwertig zu akzeptieren heißt nicht, die eigene aufzugeben.

Nur wer des Eigenen mächtig ist, kann mit dem Anderen verhandeln. Es ist längst an der Zeit, daß die Deutschen wieder mehr Zutrauen zum Eigenen fassen. Ein solches Zutrauen drückt sich nicht im Diffamieren des Anderen aus, sondern in der vorgelebten Attraktivität eigener Anschaungen und Werte.

Im folgenden soll ein Modell in fünf Schritten vorgestellt werden, eine Art Stoffsammlung zur Migration, aus dem ein Programm für ein modernes, offenes Deutschland gestaltet werden kann.

Erstens: Erkennen der Lage
In Deutschland wird die Einwanderungsfrage seit Jahrzehnten ohne Behandlung verschleppt. Mittlerweile hat sie den Charakter einer chronischen Entzündung angenommen, an der jeder laboriert, der irgendein Leiden verspürt. Mit inzwischen 7,5 Millionen Bürgern ausländischer Herkunft sind Tatsachen im Land entstanden, die Ausgangspunkt jeglicher Überlegung für die Zukunft sein müssen.

Der deutsche Nationalstaat wird ein Staat mit Bürgern unterschiedlicher Herkunft sein. Ein ethnisch und kulturell homogenes Deutschland existiert nicht. Das deutsche Volk muß zusammen mit anderen Völkern eine moderne Nation bilden, deren Identität sich nicht in archaischen Abstammungsritualen erschöpft.

Zweitens: Konsens schaffen
Keine andere Frage teilt die deutsche Gesellschaft so stark in zwei Lager, wie die Frage der Einwanderung. Diese Spaltung in der Gesellschaft muß überwunden werden. Ohne einen Konsens in der Gesellschaft über den multiethnischen Charakter Deutschlands ist kein einziges Problem zu lösen, das durch die Einwanderung der letzten Jahrzehnte entstanden ist.

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