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Ressentiments gegen die Unterstützung ostdeutscher Flüchtlinge (22. Januar 1990)

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Nur mit drastischem Leistungsabbau war es möglich, den Anstieg der Krankenkassenbeiträge zumindest vorübergehend zu bremsen. Die Arbeitslosenversicherung ist nach wie vor auf Milliarden-Zuschüsse aus der Bonner Kasse angewiesen. Die Gemeinden ächzen unter der Last der Sozialhilfe.

Wohnungsmangel, Millionen-Arbeitslosigkeit, leere Sozialkassen – und nun Hunderttausende, wenn nicht Millionen, die alle diese Mängel und Nöte verschärfen werden.

Inzwischen haben Politiker aller Richtungen, allen voran der inoffizielle SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine, erkannt, welch gefährliche Mischung sich da aus Mißgunst und Existenzangst zusammenbraut.

Die Aus- und Übersiedler und ihre vermeintliche oder tatsächliche Bevorzugung bei Arbeit und Wohnung, Rente und Krankheitskosten – dieses Thema droht zu einem Hit des Wahlkampfjahres 1990 in der Bundesrepublik zu werden. Emsig sind die Parteien dabei, sich auf diese Auseinandersetzung vorzubereiten.

Plötzlich merken alle, daß das Kriegsfolgerecht 45 Jahre nach Ende des Krieges nicht geeignet ist, die Völkerwanderung im Zeitalter der Freizügigkeit zu bewältigen. „Das ganze Recht muß auf eine neue Grundlage gestellt werden“, sagt der Sozialexperte Gerhard Scheu von der CSU.

Flink schob sich die CSU vorige Woche mit einem eigenen Programm in den Vordergrund. Sie will die Rente der Aus- und Übersiedler beschneiden. Ein Schnellschuß soll publikumswirksam verhindern, daß staatsbekannte SED-Funktionäre und Mitglieder des Staatssicherheitsdienstes in der Bundesrepublik üppige Ruhegelder kassieren.

In der Bonner Koalitionsrunde, am Dienstag vergangener Woche, zeigte sich CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm bereit, DDR-Militärs und Stasi-Rentner vom westdeutschen Sozialtopf fernzuhalten. Eine Regierungsarbeitsgruppe, so beschloß die Runde, soll zudem schnell das gesamte Rentenrecht überprüfen. In dieser Woche wollen die Regierungschefs der Länder über den Abbau zahlreicher Sonderleistungen für Aus- und Übersiedler entscheiden.

Die Politiker haben, ausnahmsweise, eine gute Witterung für die Stimmung an der Basis. Die Regierenden wissen aus langjähriger Erfahrung: Teilen im anonymen Kollektiv gehörte noch nie zu jenen Fähigkeiten, die bei den Bundesbürgern besonders ausgeprägt waren.

Entwicklungshilfe für die Dritte Welt leisteten die Bonner Regierungen quasi gegen den Mehrheitswillen, weil die außenpolitischen Zwänge dies erforderten. Ausländische Mitbürger waren, auch wenn sie noch so viel zum Bruttosozialprodukt beitrugen, stets Gegenstand des Sozialneids.

Die Toleranz gegenüber den DDR-Deutschen ist zweifellos größer, sie fallen weder durch die Hautfarbe noch durch die Sprache auf. Doch je mehr sich rumspricht, was die Neuen das Land kosten oder kosten können, um so entschiedener wird gewiß die Abwehrhaltung. Zumal die DDR-Bürger durchaus Abgreif-Qualitäten besitzen. Rund 60 Prozent der Übersiedler aus der DDR etwa, die in den ersten sechs Monaten des vorigen Jahres in West-Berlin eintrafen, ließen sich damals zunächst einmal krank schreiben. Bereitwillig attestierten Ärzte „Übersiedlungssyndrome“ oder „Adaptionsschwierigkeiten“.

Hier und da lagen sicherlich Krankheitszeichen vor. Der Hauptanreiz, das neue Leben im Westen krank zu beginnen, lag aber sicherlich woanders: Das Krankengeld ist deutlich höher als das Arbeitslosengeld. [ . . . ]



Quelle: „Da brennt die Sicherung durch“, Der Spiegel, 22. Januar 1990.

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