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Ein türkischer Laden in Kreuzberg signalisiert Fortschritte bei der Integration (März 2005)

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»Dreihundertsechzig Euro« sagt auch sein Sohn, und genau wie der Vater muß er sich beim Rechnen immer am Kopf kratzen. Dabei hat Cihan Akgül die 8. Klasse übersprungen, dabei ist Cihan längst auf dem Lessing-Gymnasium, und da nimmt man nicht jeden, bestimmt nicht jeden Türken. Ihn haben sie genommen, in zwei Jahren macht er Abitur. Trotzdem steht er nachmittags noch oft im Laden des Vaters, macht die gleichen dummen Witze wie er, weil dumme Witze sowieso die besten sind, und verrechnet sich, weil er draußen vor dem Fenster gerade jemandem hinterhersehen mußte. Aber er weiß bei jedem Verrechnen sofort eine perfekte Entschuldigung. Das spricht für einen, der etwas lernt auf der Schule.

»Nächstes Jahr steht Cihan nicht mehr im Laden«, sagt der Vater. »Dann macht er Abitur.« Man spürt den Stolz, auch wenn Tacettin Akgül das so dahinsagt und gleichzeitig die Zeitungen ordnet. 25 Jahre ist er jetzt hier, drei Kinder hat er. Aber viel gelernt hat er nicht. Gerade mal die Schlagzeilen. Es reicht gerade, um sich einzumischen ins fettgedruckte Leben Deutschlands. »Gysi ist im Krankenhaus, hast Du gelesen?« Oder: »Möllemanns Fallschirm ist nicht aufgegangen.« Oder: »Die Deutschen haben zu wenig Sex. Hier steht’s!« Ein Zeitungsverkäufer, sagt Tacettin Akgül, »ist so etwas wie ein Nachrichtenverkäufer. Früher hat man die Nachrichten vom Turm ausgerufen!« Also sind die Zeitungsverkäufer immer auf dem Laufenden.

Nur, als die Amerikaner Saddam Hussein im Erdloch entdeckt hatten, da wußten Tacettin und sein Sohn noch nichts. Ein Kunde kam mit der neuen Kunde. »Wirklich?«, fragte Cihan und wollte es zuerst nicht glauben. Schließlich ist das meiste, was zwischen den Zeitungen und dem Lebensmittelregal gesagt wird, nicht so ernst zu nehmen. Dann sagte er: »Gut so. Dieser Typ hat unsere Religion in den Schmutz gezogen!« Dabei ist Cihan kein religiöser oder strenger Mensch. Er grinst eigentlich immer. So wie sein Vater. Oder Özgür, der Cousin, der auch manchmal aushilft. Oder die Freunde der beiden, die ihnen abends im Laden Gesellschaft leisten. Neben dem Kühlschrank sitzen, auf dem Stuhl wippen, irgendeinen Energiedrink in sich kippen und dem Kunden erklären, warum es kein Becks mehr in Dosen gibt. Der junge Mann hält ein kleines Referat über die Zusammenhänge zwischen Dosenpfand und Wirtschaft und prophezeit, daß es nicht lange dauern wird, bis es wieder Becks in Dosen gibt.

Abends ist eigentlich immer irgendjemand da, mit dem man reden kann. Nur morgens, da ist der Vater allein. Da kommen sie alle nur schnell herein, um die Zeitung, Zigaretten, Nutella zu holen und natürlich die frischen Schrippen. Die sind besser als die vom Bäcker um die Ecke. Die backt nämlich die Frau vom Herrn Akgül. In der neuen Bäckerei am anderen Ende der Straße, die die Akgüls gekauft haben. Jetzt haben sie einen Laden, die Bäckerei und drei Kinder. Morgens um fünf oder um sechs schickt sie die ersten Schrippen immer gleich rüber in den Zeitungsladen. Da freuen sich die Rentner, diese alten Frühaufsteher, die nicht warten können bis sieben oder acht.

So leben sie da in der Eylauer, die Deutschen mit dem türkischen Laden. Sie leben miteinander. Nicht nebeneinander. Nicht in der Bergmannstraße, nicht in der Oranienstraße, sondern ausgerechnet in der dreckigen kleinen Eylauer Straße! Die Deutschen und die Türken. Ganz parallellos. Von morgens früh um fünf bis abends spät um zwölf. Im Zeitungsladen.



Quelle: Peter Lachmann, „Der Laden von Tecettin Algül“, Kreuzberger Chronik, März 2005, Ausgabe 65.

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