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Ein Blick auf die Love Parade (1995)

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„Man kann die deutsche Szene nicht mit der britischen vergleichen“, beharrt Jürgen Laarmann, Herausgeber des Technomagazins Frontpage (landesweite Auflage 100.000) und einer der fünf Rechtsinhaber des Namens Love Parade. „So etwas wie dieses Strafrechtsgesetz wäre hier nicht möglich. Alle hiesigen Partys sind vom Staat genehmigt – es gab keine illegalen Raves. In Deutschland gibt es inzwischen einige Politiker, denen die Rave-Szene gefällt; die Grünen versuchen, die Love Parade zu unterstützen, um neue Wähler zu gewinnen. Wir haben Drogenprobleme – vor einer Woche gab es den ersten Ecstasy-Tod in Berlin – aber es ist nicht so wie in England.“ Die Love Parade hat allerdings ihre Probleme mit den örtlichen Behörden. Als sich die Besucherzahlen im letzten Jahr erneut verdoppelten und auf 120.000 stiegen, reagierten einige konservative Abgeordnete des Berliner Senats verärgert über die steigenden Kosten, die zur Sicherung und Müllbeseitigung nötig waren und das für eine Veranstaltung, die sie nicht als politische Demonstration, sondern als „Schnickschnack“ betrachteten.

Bis Anfang Mai diesen Jahres blieben die Behörden hart: die Love Parade würde nicht stattfinden, es sei denn die Organisatoren zahlten. Doch die Medien mobilisierten: die Love Parade sei gut für Berlin und dessen internationales Image. Motte traf sich mit den Behörden, gab der Parade ein neues Motto, das erneut ihren von ihm stets behaupteten politischen Charakter betonen sollte – „Peace on Earth“ – und rettete die Situation.

„Es ist gut für die Stadt Berlin, aber es ist auch gut für die ganze Welt, weil es so viel Hass auf dem Planeten Erde gibt“, sagte er ihnen wie er es mir jetzt sagt. „Wir töten so viele Bäume, so viele Tiere und so viele Menschen, dass wir ein Zeichen setzen müssen. Nicht gegen all das, sondern für etwas. Ein Zeichen für Liebe.“

18 Uhr, 19 Uhr, 20 Uhr, 21 Uhr…verloren inmitten von 250.000 wogenden Köpfen scheint das Techno-Hippie Klischee, dass Tanzkultur eine Verbindung zu urzeitlichen Tranceritualen herstellt, an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Morgen wird die lokale Presse, berauscht von dem neuen Optimismus in der Stadt, der seit Christos Verhüllung des Reichstages eine Woche zuvor herrscht, kein schlechtes Wort über die Parade finden, obwohl einige mit einem Hitzeschlag zusammenbrachen und die Parade mit stundenlanger Verspätung endete. Die letzten der 34 Festwagen krochen gegen 23 Uhr zurück auf den Wittenbergplatz. Vor zwei Jahren ergoss sich der Himmel auf den Höhepunkt der Parade, eine Ehrfurcht erregende, donnernde Bestätigung von oben.

Heute jubeln wir den ankommenden Lastwagen hüpfend und klatschend zu, während ich mich immer mehr frage, ob Mottes Träume irgendeine reale Grundlage haben. Friedensdemonstration? Pop-Phänomen? Oder einfach nur eine geniale Party? Ist die Love Parade noch immer eine Verkörperung des Geistes der Wiedervereinigung? Dave Rimmer, ein Journalist, der Reiseführer über die Stadt verfasst hat, glaubt, die Parade habe eine dringlichere Funktion: das subkulturelle Erbe Berlins für 1998 aufrecht zu erhalten – als traditioneller Ort für Hausbesetzer, Anarchisten, Wehrdienstverweigerer, Punks und Freaks. Dies ist das Jahr, in dem das deutsche Parlament in die Stadt zurückkehrt und die mit dem Wiederaufbau verbundene soziale Bereinigung vermutlich abgeschlossen sein wird. „Sie sind bereits etwas besorgt darüber, wie nah das Parlament an Kreuzberg (dem Anarchisten- und Einwandererviertel) liegt“, sagt Rimmer. „Und vielleicht errichten sie eine Hochsicherheitszone um den Bezirk mit Überwachungskameras überall, sodass sie den Bezirk kurzfristig räumen können“.

Es scheint, als hätten wir heute die Grenzen des Möglichen getestet. Es ist schwer vorstellbar, wie die Parade auf diesem begrenzten Raum weiter wachsen kann. Ist der Ku’damm noch groß genug für eines der größten Straßenfeste der Welt, das auf einer Stufe steht mit Rio, Gay Pride, dem Notting Hill Carnival oder Sydneys Mardi Gras? Jürgen Laarmann ist in Wachstumslaune: „Vielleicht kommen nächstes Jahr eine Million Leute“, spekuliert er. „Die Zahl der Menschen auf der Love Parade verdoppelt sich jedes Jahr, also werden wir in ein paar Jahren selbstverständlich den Weltfrieden haben!“ Dann lacht Laarmann über seine eigene Übertreibung, doch nach sieben Stunden in der Glut des Rhythmus erscheint wilder Optimismus vollkommen vernünftig.

Am nächsten Morgen hat jemand ein Plakat an der U-Bahnstation Bahnhof Zoo angebracht: „Mehr Techno!“ fordert es. Genau, denke ich. Mehr Energie, Scotty, mehr Techno. Mehr Freude.



Quelle: Matthew Collin, „Berlin Cabaret, Old Chum“ [„Berliner Cabaret, alter Kumpel“], The Observer, 20. August 1995, S. 46.

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