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Ein Blick auf die Love Parade (1995)

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Was später im Jahr passierte, sorgte dafür, dass Mottes kleine Erfindung erfolgreicher werden würde, als er es sich je hätte vorstellen können. Als die Mauer am 9. November fiel, befreite dies nicht nur die Ostdeutschen von der kommunistischen DDR, es befreite auch Ost-Berlins Raum. Mit einem Mal gab es neue Orte für Partys, neue Leute auf den Partys und einen neuen Sound für die Partys.

Techno hatte bereits einen Platz in den Herzen der Meinungsmacher in der westdeutschen Clublandschaft erobert, doch als die Mauer fiel, vereinigte sich die intensive elektronische Ungezwungenheit der Musik irgendwie mit der Atmosphäre des Augenblicks zu einer Synergie. Befreiung! Techno! Eine Nation unter einem Groove! Mehr Energie! Clubs besetzten Gebäude, die vom kommunistischen Regime und dessen zusammenbrechender Industrie ihrem Schicksal überlassen worden waren – ungenutzte Fabriken, Bunker und Kraftwerke – und die Jugend aus Ost und West tanzte zum ersten Mal gemeinsam.

„Mir ist völlig egal, wer woher kommt“, sagte damals ein Clubgänger im Tresor, einem ehemaligen Bankgewölbe. „Hier in der Dunkelheit gibt es nur glückliche, schwitzende Körper.“ „Die müssen eine neue Mauer bauen, wenn sie das hier kaputtmachen wollen“, meinte ein anderer.

1991 war die Love Parade auf 5.000 Besucher angewachsen, 1992 waren es 15.000 und 1993 schon 60.000. Techno war zu einer Hauptströmung der deutschen Popkultur geworden und Technoalben tauchten mit wachsender Regelmäßigkeit in den Charts auf. Zum ersten Mal seit den Post-Punk-Bands der Neuen Deutschen Welle in den 1980ern hatte Deutschland eine einheimische Musikrichtung, auf die es stolz sein konnte.

Thomas Fehlmann, eine Schlüsselfigur der Berliner Musikszene seit den frühen 1980ern, der momentan das nächste Erasure-Album koproduziert, sagt, das Anwachsen und die zunehmende Vielfalt der Szene habe sie eher gestärkt als verwässert. „Man könnte sagen, Techno ist zum Establishment geworden, denn die kleinen Plattenlabel von vor fünf oder sechs Jahren sind jetzt Goldgruben. Zu Zeiten der Neuen Deutschen Welle waren die Plattenfirmen noch wichtig, weil sie die Studiozeit bezahlten, die man brauchte, um eine Album aufzunehmen; heute machen die Leute das zuhause und das hält die Szene am Leben.“ Die Veränderungen in der Berliner Technoszene schienen Veränderungen in der Stadt als Ganzes widerzuspiegeln: die endlose Anpassung an neue Verhältnisse, da einige der skurrilen Partyräume durch Neubauten zerstört wurden; die Herstellung von Ordnung anstelle rechtsloser Grauzonen, dadurch dass Clubs wie der Tresor legalen Status erhielten; und die Niederlassung multinationaler Konzerne in der Stadt. Die Flyer deutscher Raves ähnelten zusehends Formel 1-Rennwagen, da sie mit Sponsorenlogos übersät waren. Nie war dies deutlicher als während der Love Parade 1992, als Philip Morris die Party mit Werbematerial und kostenlosen Zigarettenpackungen überschwemmte. Dieses Jahr baute Camel entlang des Ku’damm Stände auf, an denen das Markenzeichen deutlich sichtbar für alle propagiert und gleichzeitig Wasser kostenlos angeboten wurde.

Aus britischer Sicht erscheint dieses Sponsoring unangebracht und ein wenig geschmacklos. Umgekehrt reagieren die Deutschen amüsiert auf das Verhalten der britischen Regierung gegenüber den Raves. Am selben Wochenende als die Love Parade stattfand, versuchte eine Gruppe von Aktivisten in England, zwei kostenlose Partys auf dem Land zu organisieren, um zu zeigen, dass das 1994 verabschiedete Strafrechtsgesetz* in der Praxis nicht durchsetzbar ist. Als wir durch die Berliner Straßen tanzten, nickte ein bewaffneter Uniformierter mit einem Lächeln im Gesicht den Kopf im Takt. In London trat die Polizei währenddessen die Türen der Organisatoren der „Advance Party“ ein und beschuldigte sie der Verschwörung zur Erregung öffentlichen Ärgernisses.



* Der Criminal Justice and Public Order Act (CJA) wurde 1994 in Großbritannien verabschiedet. Es verbietet u.a. unter freiem Himmel ohne spezielle Genehmigung Musik, die sich durch „eine Abfolge repetitiver Rhythmen auszeichnet“, für mehr als 100 Personen zu spielen und erlaubt Versammlungen ab 10 Leuten aufzulösen, die „auf einen Rave warten“ – Hg.

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