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Der Sohn eines preußischen Unteroffiziers sinniert über seine Kindheit und Jugend im späten 18. Jahrhundert (Rückblick)

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Trauriger Weise starb meiner Mutter das erste Kind, nachdem es ein Jahr alt geworden war, am krampfhaften Zahnen. Verzweiflungsvoll und trostlos blickte sie zum Himmel. Ihr war es, als ob jede Lebensfreude für immer von ihr gewichen sei, bis endlich die Zeit den herben Schmerz linderte. Sie strickte wieder unablässig und hatte die Freude, daß sie als Lehrerin im Stricken einer Prinzessin empfohlen wurde, ich weiß nicht mehr welcher, die sie einige Monate lang unterwies. Eine Nebenhülfe war dringend nöthig; denn meine Mutter sah ihrer zweiten Entbindung entgegen.

Am 21. Mai 1786, Mittags um 12 Uhr wurde ich geboren. [ . . . ]

Allein ich muß jene dunkle Periode des unbewußten kindlichen Lebens übergehen bis zum Jahre 1790, als meine Eltern nach der Kaserne in der großen Friedrichsstraße Nr. 102, vorn heraus, zwei Treppen hoch eine Wohnung bezogen. [Diese bestand nur aus einer Stube.] Hier entwickelte sich mein Bewußtsein, und mannigfache Bilder aus jener Zeit treten in lebendigster Frische vor meine Seele.

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Am Tage wurde auf den Straßen, auf dem Kasernenhofe, auf dem Flure oder Corridore oder in der Stube gespielt und getobt, je nachdem die Jahreszeit und die Witterung es mit sich brachten und gestatteten, denn darauf wurde strenger gehalten, als auf geschriebene Gesetze. Man weiß, daß Kühler [d. i. wohl Murmeln] nur im ersten Frühlinge, Ball nur um die Osterzeit, Drachenziehen im Herbste gespielt werden, Zeck [d. i. Fangen] aber zu allen Zeiten. Die Musterung der Soldaten auf dem Kasernenhofe, die dabei sehr häufig vorfallenden Stockprügel bei den Kanonieren und Fuchtel bei den Bombardieren, das Spießruthenlaufen ebendaselbst, das »In der Fiddel stehen« der Weiber in den Corridoren gaben der Schaulust viel Nahrung und Gelegenheit, die Zeit todt zu schlagen. Bei alle dem entwickele ich ziemliche Anlagen zum Straßenjungen.

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Meine Mutter arbeitete inzwischen, so viel sie nur irgend vermochte. Leider waren nicht immer genug Bestellungen da, und wenn sie bloß auf den Verkauf arbeitete, mußte sie die Waaren oft so billig losschlagen, daß sie nicht im Stande war, Seide zu neuer Arbeit zu kaufen. Indessen wäre es allenfalls noch leidlich gegangen, wenn mein Vater nicht unglücklicher Weise »Freiwächter« geworden wäre. Dies war auch eine von den schlimmen Einrichtungen jener Zeit, welche den Menschen zur Verzweiflung treiben konnten. Der Compagnie-Chef konnte nämlich einen Theil seiner Compagnie, ich glaube den dritten, auf vier Monate beurlauben, und bezog inzwischen den Sold dieser Mannschaft für seine Privatkasse. Die Beurlaubten waren während jener Zeit dienstfrei. Die Landeskinder gingen dann nach Hause zu ihren Angehörigen und kehrten nach abgelaufener Zeit wohl ausgefüttert zurück. Diejenigen, welche ein Handwerk trieben oder Gegenstände zum Verkauf anfertigten, arbeiteten dann zu Hause ungestört um so fleißiger. Wer aber in der Kaserne seine Heimath hatte, mußte bleiben wo er war, behielt seine Wohnung, die Unteroffiziere auch meist ihre Schlafburschen, für deren Ueberwachung sie verpflichtet blieben; aber sie erhielten in vier Monaten keinen Pfennig Sold. Dieses Loos traf auch meinen Vater; er wurde Freiwächter und konnte nun sehen, ob er von der Luft zu leben vermöchte. [ . . . ]

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