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„Die Erziehung des lippischen Landsmanns” (1789)

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Drey Jahre lang wird das Kind auf die Art unterhalten. Ob diese Erziehungsweise für Mutter und Kind gleich vortheilhaft sey, darüber mögen die Aerzte spekuliren. In Ansehung des Kindes ist der Vortheil entschieden, indem da die säugende Mutter sich allen Arbeiten unterzieht, des Kindes Gliedmaaßen, Rückgrad und Nerven frühzeitig zu allerley Bewegungen gebogen und gestärkt werden ehe es laufen kann. Die Sorgfalt der Mutter fürs Kind wird durch diese anhaltende zärtliche Verbindung auch nicht wenig erhöhet.

Das Gehen lernt es auf der Stube unter Aufsicht der Mutter kann auch ohne Gefahr auf der weitläuftigen von dem Feuerheerd abgekleideten leimernen Deel (Dreschtenne) sich mit laufen und springen zu der Bewegkeit und Fertigkeit vorbereiten, die zu seiner künftigen Bestimmung gehört.

Kaum ist diese erste Uebungszeit der körperlichen Kräfte zurückgelegt, so leistet das Kind vom vierten Jahre an, meistens dem Kuhhirten Gesellschaft, wird also unter dessen Aufsicht schon frühzeitig mit der väterlichen Flur bekannt, worauf es die erste Laufbahn seines arbeitsamen Lebens anfangen soll. Im siebten Jahre seines Alters, worinn die Zeit der moralischen Bildung, nach gesetzlicher Vorschrift, seinen Anfang nimmt wird die körperliche Uebung mit Schulgehen, nach einer, oft eine halbe Stunde von dem elterlichen Hause, entfernten Schule, heilsam fortgesetzt, der Körper dabey zu den Abwechselungen der Witterung nach und nach im Winter abgehärtet, wo die Schulzeit Vormittags und Nachmittags jedesmal auf drey Stunden festgesetzt ist.

Damit aber der Knabe außer den Schulstunden nicht unbeschäftigt bleibe, muß er beym Schulgehen, von Martini [11. November] oder von der Zeit an, wenn das Vieh aufgestallt wird, bis Maytag [1. Mai], täglich 7 Bind Garn, jedes Gebind zu 66 Faden über den langen Haspel von viertehalb Ellen, und in Gegenden, wo klein Garn gesponnen wird, 10 Gebind zu 60 Faden über den zwey und ein viertel Ellen langen kleinen Haspel liefern, in der Zeit von Maytag bis 14 Tage nach Michaelis [Michaelis = 29. September] aber die Gänse hüten und dabey der Schulordnung gemäß in der Mittagszeit, einige Stunden nach der Schule gehen.

Von der Wilbaser Kirmis an (14 Tage vor Michaelis) wird in der Ucht (der Zeitraum von des Morgens 2 Uhr an, bis Tagesanbruch) das Reinemachen des Flachses, so lange es die Witterung zuläßt, vorgenommen, 4 Personen Klein und Groß vom Pferdejungen angerechnet, müssen in der bemerkten Zeit vor dem Frühstück einen gebockten Boten (ein Gebund Flachs zu 50 bis 60 Pfund schwer) den die Hausfrau des Abends vorher, auf die Deel gebracht hat, fertig rakken, (d. i. auf der hölzernen Flachsbreche brechen) so daß ihn die Hausfrau und Mägde am Tage strippen (über die Flachsbreche ziehen) ribben und hecheln können. Diese Arbeit wird auf der Deel bey einer wohl verwahrten Leuchte, bey deren Schein der Knecht in der Schneidekammer zugleich das Futter schneiden muß, so lange emsig fortgesetzt, bis die eintretende Kälte, die sämtliche Hausfamilie in die Spinnstube treibet.

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