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Johann Wolfgang von Goethe, Auszüge aus Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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am 12. May.

Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese Gegend schweben, oder ob die warme himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles rings umher so paradiesisch macht. Da ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern. – Du gehst einen kleinen Hügel hinunter, und findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinab gehen, wo unten das klareste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer die oben umher die Einfassung macht, die hohen Bäume die den Platz ringsumher bedecken, die Kühle des Ortes; das hat alles so was anzügliches, was schauerliches. Es vergeht kein Tag, daß ich nicht eine Stunde da sitze. Da kommen dann die Mädchen aus der Stadt, und hohlen Wasser, das harmloseste Geschäft und das nöthigste, das ehemals die Töchter der Könige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so lebt die patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie alle, die Altväter am Brunnen Bekanntschaft machen und freyen, und wie um die Brunnen und Quellen wohlthätige Geister schweben. O der muß nie nach einer schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kühle gelabt haben, der das nicht mitempfinden kann.


am 13. May.

Du fragst, ob du mir meine Bücher schicken sollst? – Lieber, ich bitte dich um Gotteswillen, laß mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuret seyn; braust dieses Herz doch genug aus sich selbst; ich brauche Wiegengesang und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer. Wie oft lull’ ich mein empörtes Blut zur Ruhe, denn so ungleich so unstät hast du nichts gesehen als dieses Herz. Lieber! brauch’ ich dir das zu sagen, der du so oft die Last getragen hast, mich vom Kummer zur Ausschweifung und von süßer Melancholie zur verderblichen Leidenschaft übergehen zu sehen? Auch halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm gestattet. Sage das nicht weiter, es gibt Leute die mir es verübeln würden.


am 15. May.

Die geringen Leute des Ortes kennen mich schon und lieben mich, besonders die Kinder.

Wie ich im Anfange mich zu ihnen gesellte, sie freundschaftlich fragte über dieß und das, glaubten einige, ich wollte ihrer spotten und fertigten mich wohl gar grob ab. Ich ließ mich das nicht verdrießen; nur fühlte ich, was ich schon oft bemerkt habe, auf das lebhafteste: Leute von einigem Stande werden sich immer in kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten, als glaubten sie durch Annäherung zu verlieren; und dann gibt’s Flüchtlinge und üble Spaßvögel, die sich herab zu lassen scheinen, um ihren Übermuth dem armen Volke desto empfindlicher zu machen.

Ich weiß wohl daß wir nicht gleich sind, noch seyn können; aber ich halte dafür, daß der, der nöthig zu haben glaubt, vom so genannten Pöbel sich zu entfernen, um den Respect zu erhalten, eben so tadelhaft ist, als ein Feiger, der sich vor seinem Feinde verbirgt weil er zu unterliegen fürchtet.

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