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Joseph Görres, „Die künftige teutsche Verfassung” (18. August 1814)

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Zu diesem Zwecke müssen die Fürsten vor Allem erkennen, daß sie dieselbe Liebe, Treue, Ergebenheit und den gleichen Gehorsam, den sie von den Untergebnen verlangen, auch ihrerseits der Gesamtheit und dem Vaterlande schuldig sind; daß dieselbe Einigkeit und Einheit, die ihre besondere Herrschaft stark macht und kräftigt, auch nach aufwärts allein das Ganze, und in ihm auch wieder ihr Besonderes, bleibend und bestehend machen kann. Die Völker müssen sich in gleicher Weise überzeugen, daß ohne einen entschiednen, kräftig bestimmten öffentlichen Geist der Wille der Fürsten fürs gemeine Wohl ohnmächtig ist, und daß, wenn sie in Lässigkeit versinken, der gesamte Verband notwendig zu Grunde gehen muß. Völker und Fürsten sind nacheinander die schwere Prüfung dieser Zeiten durchgegangen, jene, indem sie zuerst aus dem Taumelbecher französischer Freiheit getrunken, diese, indem sie im Schirlingstranke von Napoleons Despotismus sich betäubt, und Beide in der Anarchie ihre Freiheit zu begründen wähnten. [ . . . ]

Damit aber der öffentliche Geist, wie er sich jetzt glücklicherweise in Deutschland entzündet hat, nachwirken, und die Fürsten halten, tragen und in allem Guten unterstützen, im Bösen abmahnen und ihm entgegenstreben könne, muß ihm in innerer ständischer Verfassung eine verfassungsmäßige Stimme und eine Einwirkung in das Getriebe der Staatsverwesung gestattet werden. [ . . . ]

Wo der Staat nur in Wenigen lebt, da führt ihr Verderben ihn auch leicht zum Untergang, und er sinkt und steigt mit ihnen; wo die Gesamtheit aber ihm ihre Teilnahme zugewendet hat, da lebt er ein unverwüstlich immer sich verjüngend Leben. In dem gleichen Gemeinsinn, womit die Fürsten sich zusammenschließen, werden darum auch die Völker sich um die Fürsten drängen, und also, durch solche Doppeltkraft gebunden, wird mit wachsender Gefahr die Verbindung immer enger werden, und genauer und fester geschlossen stehen. [ . . . ]

Ein Rat, den die Fürsten zu bestimmten Zeiten in eigner Person besuchen, übe unter ihrem Vorsitz die gesetzgebende Gewalt, und bringt fortschreitendes, sich immer selbst ergänzendes Leben in die Verfassung, damit diese, als bleibend gesetzt, nicht erstarre und, wenn wir, den Franzosen gleich, sie in jedem Jahre ändern wollen, nicht zum Gespötte werde. [ . . . ]

Es sind aber die drei Säulen, auf welche alle ständische Verfassung gegründet ist, Lehrstand, Wehrstand und Nährstand, dieselben, welche weise, wenn auch nicht vollkommen, in der Reichsstandschaft der alten Verfassung, durch die geistlichen Fürsten, die weltlichen samt der Reichsritterschaft, und die Reichsstädte dargestellt wurden. Auf dieser dreifachen Grundlage, die so alt ist wie die Geschichte, und in ihren Uranfängen und in tiefster Wurzel schon also geteilt erscheint, wird auch der neue Staatsvertrag errichtet werden. Die Häupter der drei Stände werden um den Fürsten stehen als Teilnehmer seiner Verantwortlichkeit, Beistand ihm und Räte, antreibend, wo die Herrscherkraft nachläßt, hemmend, wo sie allzu scharf sich spannt: Vermittler zwischem dem Volke und der Regierung.




Quelle: Joseph Görres, „Die künftige teutsche Verfassung“, Rheinischer Merkur, 18. August 1814 und 20. August 1814.

Abgedruckt in Peter Longerich, Hg., Was ist des Deutschen Vaterland, Dokumente zur Frage der deutschen Einheit 1800 bis 1990. München und Zürich: Piper Verlag, 1990, S. 51-53.

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