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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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So zweifelt und verzweifelt der Mensch, allerdings nach vielen scheinbaren Erfahrungen der Geschichte, ja gewissermaßen hat diese traurige Klage die ganze Oberfläche der Weltbegebenheiten für sich; daher mir mehrere bekannt sind, die auf dem wüsten Ozean der Menschengeschichte den Gott zu verlieren glaubten, den sie auf dem festen Lande der Naturforschung in jedem Grashalm und Staubkorn mit Geistesaugen sahen und mit vollem Herzen verehrten. Im Tempel der Weltschöpfung erschien ihnen alles voll Allmacht und gütiger Weisheit; auf dem Markt menschlicher Handlungen hingegen, zu welchem doch auch unsre Lebenszeit berechnet worden, sahen sie nichts als einen Kampfplatz sinnloser Leidenschaften, wilder Kräfte, zerstörender Künste ohne eine fortgehende gütige Absicht. Die Geschichte ward ihnen wie ein Spinnengewebe im Winkel des Weltbaus, das in seinen verschlungenen Fäden zwar des verdorreten Raubes gnug, nirgend aber einmal seinen traurigen Mittelpunkt, die webende Spinne selbst zeiget.

Ist indessen ein Gott in der Natur, so ist er auch in der Geschichte: denn auch der Mensch ist ein Teil der Schöpfung und muß in seinen wildesten Ausschweifungen und Leidenschaften Gesetze befolgen, die nicht minder schön und vortrefflich sind als jene, nach welchen sich alle Himmels- und Erdkörper bewegen. Da ich nun überzeugt bin, daß, was der Mensch wissen muß, er auch wissen könne und dürfe, so gehe ich aus dem Gewühl der Szenen, die wir bisher durchwandert haben, zuversichtlich und frei den hohen und schönen Naturgesetzen entgegen, denen auch sie folgen.


I.

Humanität ist der Zweck der Menschennatur, und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben

Der Zweck einer Sache, die nicht bloß ein totes Mittel ist, muß in ihr selbst liegen. Wären wir dazu geschaffen, um, wie der Magnet sich nach Norden kehrt, einen Punkt der Vollkommenheit, der außer uns ist und den wir nie erreichen könnten, mit ewig vergeblicher Mühe nachzustreben: so würden wir als blinde Maschinen nicht nur uns, sondern selbst das Wesen bedauern dürfen, das uns zu einem tantalischen Schicksal verdammte, indem es unser Geschlecht bloß zu seiner, einer schadenfrohen, ungöttlichen Augenweide schuf. Wollten wir auch zu seiner Entschuldigung sagen, daß durch diese leeren Bemühungen, die nie zum Ziele reichen, doch etwas Gutes befördert und unsere Natur in einer ewigen Regsamkeit erhalten würde: so bliebe es immer doch ein unvollkommenes, grausames Wesen, das diese Entschuldigung verdiente; denn in der Regsamkeit, die keinen Zweck erreicht, liegt kein Gutes, und es hätte uns, ohnmächtig oder boshaft, durch Vorhaltung eines solchen Traums von Absicht seiner selbst unwürdig getäuschet. Glücklicherweise aber wird dieser Wahn von der Natur der Dinge uns nicht gelehret; betrachten wir die Menschheit, wie wir sie kennen, nach den Gesetzen, die in ihr liegen: so kennen wir nichts Höheres als Humanität im Menschen; denn selbst wenn wir uns Engel oder Götter denken, denken wir sie uns nur als idealische, höhere Menschen.

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