GHDI logo

Leopold von Ranke: Auszüge aus seinen Schriften (1824-1881)

Seite 8 von 9    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Der Historiker hat also sein Hauptaugenmerk erstens darauf zu richten, wie die Menschen in einer bestimmten Periode gedacht und gelebt haben, und dann findet er, daß, abgesehen von gewissen unwandelbaren ewigen Hauptideen, zum Beispiel den moralischen, jede Epoche ihre besondere Tendenz und ihr eigenes Ideal hat. Wenn nun aber auch jede Epoche an und für sich ihre Berechtigung und ihren Wert hat, so darf doch nicht übersehen werden, was aus ihr hervorging. Der Historiker hat also fürs zweite auch den Unterschied zwischen den einzelnen Epochen wahrzunehmen, um die innere Notwendigkeit der Aufeinanderfolge zu betrachten. Ein gewisser Fortschritt ist hierbei nicht zu verkennen. Aber ich möchte nicht behaupten, daß sich derselbe in einer geraden Linie bewegt, sondern mehr wie ein Strom, der sich auf seine eigene Weise den Weg bahnt. Die Gottheit – wenn ich diese Bemerkung wagen darf – denke ich mir so, daß sie, da ja keine Zeit vor ihr liegt, die ganze historische Menschheit in ihrer Gesamtheit überschaut und gleich wert findet. Die Idee von der Erziehung des Menschengeschlechtes hat allerdings etwas Wahres an sich, aber vor Gott erscheinen alle Generationen der Menschheit als gleich berechtigt, und so muß auch der Historiker die Sache ansehen.

2. Was von der sogenannten leitenden Idee in der Geschichte zu halten sei

Die Philosophen, namentlich aber die Hegelsche Schule, haben hierüber gewisse Ideen aufgestellt, wonach die Geschichte der Menschheit wie ein logischer Prozeß in Satz, Gegensatz, Vermittelung, in Positivem und Negativem sich abspinnt. In der Scholastik aber geht das Leben unter, und so würde auch diese Anschauung von der Geschichte, dieser Prozeß des sich selbst nach verschiedenen logischen Kategorien entwickelnden Geistes auf das zurückführen, was wir oben bereits verwarfen.

Nach dieser Ansicht würde bloß die Idee ein selbständiges Leben haben. Alle Menschen aber wären bloß Schatten oder Schemen, welche sich mit der Idee erfüllten. Der Lehre, wonach der Weltgeist die Dinge gleichsam durch Betrug hervorbringt und sich der menschlichen Leidenschaften bedient, um seine Zwecke zu erreichen, liegt eine höchst unwürdige Vorstellung von Gott und der Menschheit zugrunde; sie kann auch konsequent nur zum Pantheismus führen. Die Menschheit ist dann der werdende Gott, der sich durch einen geistigen Prozeß, der in seiner Natur liegt, selbst gebiert.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite