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Leopold von Ranke: Auszüge aus seinen Schriften (1824-1881)

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II. Notizen über Geschichte und Philosophie, Auszug aus Weltgeschichte (1881-88)

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„Es ist oft," so heißt es daselbst, „ein gewisser Widerstreit einer unreifen Philosophie mit der Historie bemerkt worden. Aus apriorischen Gedanken hat man auf das geschlossen, was da sein müsse. Ohne zu bemerken, daß jene Gedanken vielen Zweifeln ausgesetzt seien, ist man daran gegangen, sie in der Historie der Welt wiederzusuchen. Aus der unendlichen Menge der Thatsachen hat man alsdann diejenigen ausgewählt, welche jene zu beglaubigen schienen. Dies hat man wohl auch Philosophie der Geschichte genannt. Einer von den Gedanken, mit welchen die Philosophie der Historie als mit unabweislichen Forderungen immer wiederkehrt, ist, daß das Menschengeschlecht in einem ununterbrochenen Fortschritt, in einer stetigen Ausbildung zur Vollkommenheit begriffen sei. Fichte, einer der ersten Philosophen in diesem Fach, nimmt fünf Epochen an; wie er sagt, einen Weltplan: Vernunft durch Instinkt herrschend; Vernunft durch das Gesetz herrschend; Befreiung von der Autorität der Vernunft; Vernunftwissenschaft; Vernunftkunst — oder: Unschuld, anhebende Sünde, vollendete Sündhaftigkeit, anhebende, vollendete Rechtfertigung; Epochen, die in dem Leben eines Einzelnen vorkommen können. Wäre dies oder ein ähnliches Schema einigermaßen wahr, so würde die allgemeine Geschichte den Fortschritt zu verfolgen haben, den das Menschengeschlecht in der bezeichneten Richtung von dem einen Zeitalter zum anderen genommen; sie würde mit einer Entwicklung derartiger Begriffe in ihrer Erscheinung, in ihrer Darstellung auf der Welt ihr ganzes Gebiet erfüllen. Doch ist dem bei weitem nicht so. Einmal nämlich sind die Philosophen selbst über die Art und Auslese jener angeblich herrschenden Ideen außerordentlich verschiedener Meinung. Sodann aber fassen sie wohlweislich nur einige wenige Völker der Weltgeschichte ins Auge, während sie das Leben aller übrigen für ein Nichts, gleichsam eine bloße Zugabe erachten. Sonst könnte keinen Augenblick verborgen sein, daß die Völker der Welt von Anfang an bis auf den heutigen Tag in dem allerverschiedensten Zustande gewesen sind.

Menschliche Dinge kennen zu lernen, giebt es eben zwei Wege: den der Erkenntniß des Einzelnen und den der Abstraktion; der eine ist der Weg der Philosophie, der andere der der Geschichte. Einen anderen Weg giebt es nicht, und selbst die Offenbarung begreift beides in sich: abstrakte Sätze und Historie. Diese beiden Erkenntnißquellen sind also wohl zu scheiden. Demohnerachtet irren auch diejenigen Historiker, welche die ganze Historie lediglich als ein ungeheures Aggregat von Thatsachen ansehen, das man ins Gedächtniß zu fassen sich das Verdienst erwerben müsse; wodurch geschieht, daß Einzelnes an Einzelnes gehängt und nur durch eine allgemeine Moral zusammengehalten wird. Ich bin vielmehr der Meinung, daß die Geschichtswissenschaft in ihrer Vollendung an sich selbst dazu berufen und befähigt sei, sich von der Erforschung und Betrachtung des Einzelnen auf ihrem eigenen Wege zu einer allgemeinen Ansicht der Begebenheiten, zur Erkenntniß ihres objektiv vorhandenen Zusammenhanges zu erheben.

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