GHDI logo

Die Schriftstellerin Christa Wolf analysiert die Debatte zur ostdeutschen Literatur (27. September 1993)

Seite 3 von 3    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Natürlich packte man mich an diesem Zipfel: Wo diese Literatur denn bleibe. Warum denn ich, fragt eine wuschelköpfige junge Frau, nicht schon lange wieder öffentlich gesprochen habe; jemand wollte wissen, wofür denn meine Entfernung nach Amerika gestanden habe, ob das eine Flucht gewesen sei. Ich poche auf mein Recht, zu reden, wann ich wolle, auch zu schweigen, ich wehre mich gegen die Anwalts-Rolle, die sie mir wieder zuteilen wollen, sehe ein, daß sie zum Teil recht haben, zähle aber auf, was ich und andere dennoch gesagt und geschrieben haben, ohne daß es groß wahrgenommen wurde, erinnere, wie immer bei solchen Gelegenheiten, daran, wie viele Jahre nach den Napoleonischen Kriegen Tolstoi »Krieg und Frieden« geschrieben hat, plädiere für die Besinnungspause, die man auch Schriftstellern zugestehen muß. Ich höre sie ja, ja sagen und spüre, daß sie im stillen bei ihren Forderungen bleiben, merke körperlich, wie stark dieser Anspruch schon wieder ist oder vielleicht immer geblieben ist.

[ . . . ]

Um Mitternacht auf der menschenleeren »Fußgängerzone« im Zentrum von Potsdam, geisterhaft beleuchtet durch Peitschenlampen. Für Sekunden habe ich ein intensives Déjà-vu-Erlebnis: Aber das hatte ich doch schon mal, hier habe ich doch schon mal gestanden, in dem gleichen Licht, die gleichen Abschiedsworte habe ich gehört, die gleichen Umarmungen habe ich schon einmal ausgetauscht . . . Aber das ist unmöglich, ich bin einfach müde, schlafe meist auf der Rückfahrt, Gerd ist auch müde, hält sich aber durchs Autofahren wach. Wir reden nicht viel [auf der Rückfahrt] ich sage einmal, so etwas könne ich nicht noch einmal machen. Gerd sagt: Mußt du ja nicht. Ich habe mir aus der Buchhandlung ein Buch mitgenommen, das gerade im Gespräch ist, habe darin geblättert, eine ganz und gar ausgedachte Geschichte, ich beneide die Autorin. Wann werde ich, oder werde ich überhaupt je noch einmal ein Buch über eine ferne erfundene Figur schreiben können; ich selbst bin die Protagonistin, es geht nicht anders, ich bin ausgesetzt, habe mich ausgesetzt.

Vor dem Einschlafen lese ich in einem Aufsatz von Erwin Chargraff: »Zweierlei Trauer«, der mit dem Satz beginnt: »Eine stumme Trauer hat sich auf die Welt gesenkt.« Das ist wahr, denke ich, traurig, und finde dann ein Tagebuchzitat von Kierkegaard aus dem Jahr 1849: »Ein einzelner Mensch kann einer Zeit nicht helfen oder sie retten, er kann nur ausdrücken, daß sie untergeht.«



Quelle: Christa Wolf, Ein Tag im Jahr, 1960-2000 (orig. 2003) © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008. [Eintrag vom 27. September 1993, S. 554-62.]

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite