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Die Schriftstellerin Christa Wolf analysiert die Debatte zur ostdeutschen Literatur (27. September 1993)

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Plötzlich geht es dann doch um die Stasi-Problematik. Ob es wichtig sei, sie immer wieder aufzutischen und sich damit auseinanderzusetzen. Es gibt unterschiedliche Meinungen, ich spüre eine Unlust an diesem Thema, bei dem ich versuche, mich scharf zu kontrollieren, weil ich nicht unbefangen bin. Also sage ich, als das Stichwort »Versöhnung« gefallen ist, es könne keine Versöhnung geben, ohne daß man die Tatbestände kenne, und noch während ich es sage, frage ich mich, ob ich das wirklich denke oder ob ich es nicht nur gelesen habe. Dies ist eines aus der übrigens wachsenden Zahl von Themen, zu denen ich keine feste Meinung habe, ich möchte hören, ob die Leute eine Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit überhaupt wollen (aber kann man sie eigentlich »wollen«, wenn sie peinlich und schmerzlich ist, oder ist es einer der typischen deutschen protestantischen Rigorismen, anzunehmen, nach Schuldbekenntnis und Reue werde Vergebung und Katharsis folgen – bisher ist es in der Geschichte immer anders gelaufen); manche sagen, sie wollten schon über die Vergangenheit nachdenken, nur so wollten sie die Auseinandersetzung nicht: vom Westen ohne Fingerspitzengefühl und Differenzierung betrieben; die Praktiken der Gauck-Behörde in meinem Fall kommen zur Sprache, als Beleg dafür, daß die Stasi-Akten instrumentalisiert werden. Ich versuche dagegenzuhalten, daß man eigentlich dahin kommen müsse, sich über sein Leben selbst Rechenschaft abzulegen, gleichgültig, wie schwer andere es einem machen, gleichgültig, um wieviel schuldiger andere sind, aber ich weiß, das sind Zumutungen, die mit dem wirklichen Leben der meisten Menschen nichts zu tun haben. Wie die Diskussion hin und her geht, gewinne ich den Eindruck, sie erwarten wieder Merksprüche von mir, wie es weitergehen soll. Ich verstehe jede Regung und Gegenregung aus dem Publikum, es ist, als sei ich nie weg gewesen, es ist, als hätten sie in der Zeit denselben Prozeß durchlaufen wie ich, und nun muß ich mich wehren gegen eine Erwartungshaltung, die ich nicht bedienen will, ich verwahre mich (was für ein schönes Wort!) gegen jede Erscheinungsform von DDR-Nostalgie, die es einem erlaubt, zu schönen, was man selbst in den letzten Jahrzehnten gesagt und getan oder, zumeist, nicht getan hat, nenne Gelegenheiten, bei denen wir (»wir« sage ich und meine eine kleine Gruppe von Freunden) doch ziemlich allein gewesen seien, bis dann, als die Zersetzungserscheinungen des Staates immer offensichtlicher, die Gefahren geringer wurden, immer mehr Leute in Widerspruch, schließlich in Opposition gerieten, das sei der normale Verlauf, dafür könne man niemandem einen Vorwurf machen, am wenigsten ich, aber ich würde auch nicht vergessen, wie verzweifelt ich in den letzten Jahren der DDR manchmal gewesen sei, ebensowenig würde man mich dazu bringen, gutzuheißen, auf welche Weise und mit welcher Geschwindigkeit dann abgewickelt wurde, was nach DDR roch, anrüchig war, und während ich das sage, sehe ich uns mit den Augen derer von außen: Bewohner einer Quarantäne-Baracke, infiziert mit dem Stasi-Virus, zum ersten Mal glaube ich wirklich zu begreifen, welche Vorteile dieser Blick bringt, psychologische Vorteile, denn auf diese Infizierten muß man sich nicht einlassen, es ist Selbstschutz, wenn man sie nicht an sich heranläßt, und es ist selbstverständlich, daß man über sie verfügen kann. Da dämmert es mir, welchen Schaden diese Art der »Aufarbeitung« stiftet, für beide Seiten stiftet, und ich höre mich, heftiger als ich will, sagen, aber auch dazu, zu Demütigung und Abwicklung, gehörten zwei. Warum habe man sich nicht gewehrt (aber wie denn? fragt die Gegenstimme in mir)? Warum gingen die Leute aus Bischofferode durchs Land, und niemand gehe mit? (Es ist mir klar, und am nächsten Tag kann ich es nachlesen: Das sind die Sätze, die man überall in den Zeitungen zitiert.)

Jemand stellt die schöne Frage, ob denn nun die Stasi-Akten das schlechte Gewissen der Nation seien, ich sage: Nein, nur in Deutschland könne man auf die Idee kommen, daß Akten das Gewissen ersetzen können. Nachdem ich meine Akten gelesen habe, wisse ich: Diese Akten enthalten nicht »die Wahrheit«, weder über den, zu dessen Observation sie angelegt wurden, noch über diejenigen, die sie mit ihren Berichten füllten. Sie enthalten, was die Stasi-Leute gesehen haben oder sehen sollten, mußten, durften. Sie widerspiegeln eine wachsende Paranoia der kleinsten Geister; schon die Sprache, die sie benutzten, sei nicht geeignet gewesen, »Wahrheit« aufzunehmen, schon ihre Fragestellung reduziere die Menschen zu Objekten, derer sie sich bedienten. Ein paar Informationen könne man aus ihnen herausziehen, häufig veraltete Informationen selbst über die Zuträger, denen die Akten keine Entwicklung zugestehen und die man nun auf einem für sie vielleicht überwundenen Punkt festnagle (weshalb uns die Entschlüsselung der Decknamen der vielen IMs, die uns in früheren Perioden umgaben, nicht interessierte). Ich bin ganz froh, daß ich das unbefangen sagen kann, da ich ja meine eigene IM-Akte publizieren ließ, ich sage: Nein, »die Wahrheit« über diese Zeit und über unser Leben müsse wohl doch die Literatur bringen.

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