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Die Autorin Daniela Dahn verkündet ein neues ostdeutsches Selbstbewusstsein (21. September 1996)

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In den Armen von Wohlstand und Gerechtigkeit würden die zuvor gepeinigten Beigetretenen endlich Zufriedenheit finden. Aber bevor jene noch wie erhofft Demokratie pur, Marktwirtschaft sozial und Emanzipation modern genießen konnten, zerrannen sie ihnen zwischen den aufgehaltenen Händen. Schneller als viele von ihrem Sieg noch umnebelte Westverwandte begriffen sie, dass das bis zur Wende zu Recht als überlegene Zivilisation favorisierte Gesellschaftsmodell in seiner jetzigen Form justament am Ende ist. Festzustellen, dass wir dem Kapitalismus im Moment der beginnenden Auflösung seiner Vorzüge beigetreten sind, hat nichts mit antiwestlichen Ressentiments zu tun. Was befremdet, ist die brutale Energie der Restauration.

Die tiefe Krise der Arbeitsgesellschaft und die demokratiegefährdende Globalisierung des Kapitals werden inzwischen zwar benannt, aber von der übergroßen Mehrheit im Westen noch nicht als Herausforderung der Globalisierung der Arbeitnehmerinteressen verinnerlicht. Politische Aktivität lässt, zugegeben, auch im Osten zu wünschen übrig, aber Diskussionen laufen hier ziemlich anders.

Nirgends lässt sich die unsichtbare geistige Spaltung deutlicher ablesen als in der einst sichtbar gespaltenen Hauptstadt: Hier hat die Partei, die die größten Veränderungen fordert, im Osten über 40 Prozent Anhänger, im Westen nicht einmal ein Zehntel davon.

Einige Westliberale empfinden sich als besonders entgegenkommend, wenn sie angesichts von DDR-Biographien einräumen, es habe offenbar, entgegen dem vielstrapazierten Adorno-Satz, doch ein wahres Leben im falschen gegeben. Ich habe diesen aus dem Zusammenhang gerissenen Gedanken nie nachvollziehen können. Unterstellt er doch, es gebe überhaupt ein nichtfalsches, also richtiges Dasein. Dies erlaube ich mir zu bezweifeln. Die Unterschiede sind gradueller Natur. Letztlich gibt es nichts anderes als wahres Leben im falschen. Auch heute.




Quelle: Daniela Dahn, „Ost und West missverstehen sich“, taz, 21. September 1996.

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