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Der Theologe Richard Schröder ruft zu einem demokratischen Patriotismus auf (1993)

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Was nun ist das Bestimmte, das uns als Deutsche verbindet? Es ist keine Substanz, die wir komplett vorzuweisen und als „Deutschtum“ rein zu erhalten hätten. Es ist eine gemeinsame Haftung. Wir haften für unsere gemeinsame Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen, und wir haften füreinander für unsere Gemeinsame Zukunft.

Die Höhen, damit meine ich unsere Kultur. Wir, die Deutschen, stehen in der Pflicht, sie als einen Teil der europäischen Kultur und der Menschheitskultur zu erhalten, und zwar nicht nur für uns, sondern ebenso für die anderen. Wir können voneinander erwarten, daß wir uns und ihnen unsere, sie aber sich selbst und uns die ihre erhalten. Kultur kommt von colere und das heißt: pflegen. Die Tiefen, das ist die geschichtliche Schuld der Deutschen. Manche möchten bestreiten, daß es so etwas überhaupt gibt: geschichtliche Schuld. Was habe ich mit dem zu tun, was meine Vorfahren getan haben? Die Antwort lautet: Die Nachfahren der Opfer sehen in uns die Nachfahren der Täter. Die Juden oder die Polen können von uns erwarten, daß wir uns nicht auf die zweifelhafte Gnade der späten Geburt berufen, als sei nie etwas Furchtbares in unserem Lande geschehen. Umgekehrt können wir erwarten, daß die Juden oder die Polen uns nicht persönlich haftbar machen für das, was geschehen ist. Wir haften für die geschichtliche Schuld unserer Vorfahren so, daß wir im Umgang mit den anderen Völkern anerkennen und berücksichtigen, was geschehen ist. Verständigung zwischen den Völkern kommt eben nicht nach Schillers Rezept zustande: „Seid umschlungen, Millionen“, tilgen wir doch die Geschichte, sondern nur so, daß wir gelten lassen, was zwischen den Völkern geschehen ist, und gemeinsam ein vernünftiges Verhältnis zu dem suchen, was war. Und wieder gilt: ob wir wollen oder nicht, unsere Nachbarn sprechen auch in dieser Hinsicht uns, den Ostlern wie den Westlern, zu, daß wir Deutsche sind. Der Ruf, den die Deutschen bei ihren Nachbarn haben, ist ein Teil der Wirklichkeit jedes Deutschen, und zwar ein durchaus wirksamer Teil.

Wir haften aber nicht nur vor den anderen für deutsche Schuld, sondern auch füreinander. Daß Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt wurde, Stalin im Osten Ulbricht installierte und die beiden deutschen Staaten so verschiedene Entwicklungen nahmen, hat seinen Grund im verlorenen Weltkrieg, den Hitler vom Zaun gebrochen hat, und darin, daß die Siegermächte ihre Zonen sehr verschieden behandelt haben. Daß die beiden deutschen Staaten jeweils die Regierungs- und Wirtschaftsform bekommen hätten, die sie verdient haben, ist blanker Unfug. 1945 steckten alle Deutschen in derselben Misere. Nur diejenigen, die aus der SBZ oder der DDR geflohen sind, können von sich sagen, daß sie sich bewußt für den Westen entschieden haben – übrigens aus sehr verschiedenen Motiven. Diejenigen, die geblieben sind, haben doch nicht deshalb die Verhältnisse begrüßt oder bejaht. Sie hatten zumeist Gründe, dennoch und nicht etwa deshalb zu bleiben. Es gibt da allerdings eine fast unwiderstehliche Versuchung: doch wenigstens nicht alles im eigenen Lande schlecht finden zu müssen, denn das ist sehr anstrengend. Auf diesem Wege entstanden dann Sätze von der Art: „Es ist zwar vieles schlecht in der DDR, ABER wir haben keine Arbeitslosen / keine Rauschgiftprobleme / wir beuten nicht die Dritte Welt aus / bei uns haben die Nazis keine Chance usw. Man wurde nicht vor, sondern hinter dem ABER konkret. Bei näherem Hinsehen hat manches hinter dem ABER keinen Bestand, anderes hinter dem ABER erweist sich als der kleine Vorteil eines größeren Nachteils vor dem ABER.

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