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Rainer Zitelmann: Wiedervereinigung und deutscher Selbsthass (1992)

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Rolf Stolz, einstmals Mitbegründer der Grünen und Initiator der „Linken Deutschlanddiskussion“, warnt in seinem Buch Der deutsche Komplex davor, das Phänomen des linken deutschen Selbsthasses zu unterschätzen: „Die Deutschen als lebensunwertes Leben, Deutschland teils als absolute politische Unmöglichkeit, teils als Krebsgeschwür Europas – das ist jenes zugespitzte, übersteigerte Selbst(haß)gefühl, das in dieser Radikalität bisher nur eine gewisse Szene erfaßt hat, aber heute bereits in abgemilderter Form ein tatsächliches Massenphänomen ist.“* Sicher ist es übertrieben, von einem „Massenphänomen“ zu sprechen, aber es wäre in der Tat verfehlt, den Selbsthaß nur als Phänomen kleiner Randgruppen der linksextremistischen Szene abzutun. Michael Schneider räumt denn auch ein: „Offenbar gibt es kein hartnäckigeres Relikt der deutschen Vergangenheit als den linken deutschen Selbsthaß, der auch mir nicht fremd ist.“** Ob der linke deutsche Selbsthaß allerdings primär als „Relikt der Vergangenheit“ zu begreifen ist, muß bezweifelt werden.

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Der linke deutsche Selbsthaß ist nicht nur ein Resultat der NS-Vergangenheit, sondern vor allem auch ein Ergebnis des frustrierten Aufklärungseifers und Sendungsbewußtseins. Die Linke fühlte sich als wahrhafte Vertreterin der „objektiven Interessen“ der „Massen“ des Volkes. Die Massen wollten und wollen aber nicht auf die Linke hören. Viele Bücher und Aufsätze in linken Zeitschriften sind zu der Frage erschienen, warum die „Massen“ ihre Interessen nicht erkennen und ihnen zuwiderhandeln. Diese Erfahrung war um so schmerzlicher, als sie mit einem enormen, höchst „engagierten“ Missions-Eifer korrespondierte. Aus der Frustration über dieses weitgehend ins Leere laufende Sendungsbewußtsein entwickelte sich bei vielen Linken eine Distanz zum eigenen Volk, bei einigen sogar eine massive Abneigung, die in Haß umschlagen konnte. Dies ist eine wesentliche Wurzel des Selbsthasses, der im Grunde kein Selbsthaß im eigentlichen Wortsinn ist, weil man nicht sich selbst haßt, sondern das „Restvolk“. Man spricht ja von „den Deutschen“ so, als gehöre man selbst gar nicht dazu. Und in der Tat: man fühlt sich nicht zugehörig. Man hat sich selbst ausgegrenzt und fühlt sich in dieser Ausgrenzung zugleich wohl und auch wiederum sehr unwohl.

Es handelt sich auch um eine soziale Kluft, nämlich um eine Kluft zwischen den Intellektuellen und dem Volk. „Zwischen Intelligentsija und Leut‘ wird die Klassenkluft immer gährender“, so hat Günther Nenning richtig beobachtet. „Wir Intellektuellen sind erfüllt von absolut richtiger Menschlichkeit, die uns nichts kostet. Das Volk, dies merkend, ist erfüllt von absolut berechtigtem Mißtrauen gegen uns Intellektuelle . . . Ein Gutteil des Raumes der hoch- und halbintellektuellen Medien ist erfüllt mit dem Thema: Wir mögen unser Volk nicht. Unser Volk ist blöd und faschistoid. Fast keinerlei Raum der hoch- und halbintellektuellen Medien ist erfüllt mit dem Thema: Was ist los mit der Intelligentsija? Warum kann die Intelligentsija das Volk nicht leiden? Hat das wechselseitige Unverständnis zwischen Intellektuellen und Leut‘ seien Grund nur darin, daß die Intellektuellen aufgeklärt und das Volk blind ist?***

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* Rolf Stolz, Der deutsche Komplex. Alternativen zur Selbstverleugnung, Erlangen u.a. 1990, S. 43.
** Michael Schneider, Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie, Berlin 1990, S. 112.
*** Günther Nenning, Die Nation kommt wieder. Würde, Schrecken und Geltung eines europäischen Begriffs, Zürich 1990, S. 96 f. Ähnlich fragt auch Paul Noack in seiner anregenden Studie: Deutschland, deine Intellektuellen. Die Kunst, sich ins Abseits zu stellen, Stuttgart u.a., 1991.



Quelle: Rainer Zitelmann, „Wiedervereinigung und deutscher Selbsthaß“, Deutschland-Archiv 25, Nr. 8 (1992), S. 811-20.

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