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Rainer Zitelmann: Wiedervereinigung und deutscher Selbsthass (1992)

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Für die Linke stellte sich die Situation anders dar. Sie hatte in den siebziger und achtziger Jahren im intellektuellen Diskurs der Bundesrepublik die kulturelle Hegemonie errungen. Mit Befriedigung konstatierte Habermas eine „Linksverschiebung des politischen Spektrums“,* äußerte aber zugleich seine Befürchtung darüber, diese Linksverschiebung könne angesichts der jüngsten Entwicklungen eine Revision erfahren. Diese Sorge wurde durch Vermutungen über die mentalen Folgen der Einheit noch bestärkt. Habermas befürchtete, die von den „neuen sozialen Bewegungen“ thematisierten „postmateriellen Wertorietierungen“ und die von ihnen getragene „Protestkultur“ könnten sich als Folge der Vereinigung beider deutscher Staaten in den Hintergrund schieben (S. 76 f.).** Der „im ganzen progressive Wandel in Motiven und Einstellungen“ (S. 77) der bundesdeutschen Bevölkerung könne durch die Vereinigung einen Rückschlag erhalten, „denn die DDR hat den dramatischen Wandel der Wertorientierungen, der sich in der Bundesrepublik seit den späten 60er Jahren vollzogen hat, noch nicht nachgeholt“ (S. 78). Man ahnt, was Habermas meint: Multikulturelle Visionen, feministische Utopien, progressiver Antifaschismus und engagierter Anti-Antikommunismus, also all jene Einstellungen, die seit der bundesdeutschen Kulturrevolution von 1968 zum „guten Ton“ in der „aufgeklärten“ und „kritischen“ Öffentlichkeit gehören, finden in der Ex-DDR nur wenig Anklang. – Für die deutsche Linke war das Jahr 1990 in jeder Hinsicht schwierig und deprimierend. Die SPD verlor mit ihrem antinationalen Kanzlerkandidaten haushoch die Bundestagswahl, den Grünen (West) gelang nicht einmal der Einzug in den Bundestag, die Deutsche Kommunistische Partei und ihre Vorfeldorganisationen gerieten in eine existentielle Krise.*** Auf einmal wurde nicht mehr nur von den Verbrechen der Nationalsozialisten gesprochen, sondern auch von denen des Kommunismus. Dabei hatte sich seit 1968 zunehmend ein Anti-Antikommunismus in der Bundesrepublik durchgesetzt, der die Verhältnisse in den kommunistischen Ländern beschönigte**** und die Thematisierung der im Namen des Sozialismus begangenen Verbrechen tabuisierte. Bislang trug sich die Linke mit einem – in der intellektuellen Debatte weitgehend unbestrittenen – Bewußtsein moralischer Überlegenheit. „Die Rechte“ sah sich unter ständigem Rechtfertigungszwang, weil sie immer wieder mit den negativen Kontinuitäten der deutschen Geschichte oder gar mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in Verbindung gebracht wurde. Die Linke hingegen, von dem Bewußtsein der Übereinstimmung mit einer unaufhaltsamen historischen Tendenz durchdrungen, sah sich als alleinige Hüterin von positiv belegten Werten und Tendenzen wie Aufklärung, Emanzipation und Humanismus. Die „Progressiven“ standen also auf der richtigen Seite der Geschichte; die nationalen und konservativen Kräfte aber waren die Ewig-Gestrigen. Über sie hatte die historische Entwicklung schon ihr unerbittliches Urteil gesprochen oder sollte es bald sprechen. Mit all diesen Gewißheiten schien es nach den Ereignissen der Jahre 1989 und 1990 vorbei.

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* Jürgen Habermas, „Die Stunde der nationalen Empfindung. Republikanische Gesinnung oder Nationalbewußtsein?“ in: ders., Die nachholende Revolution. Frankfurt am Main, 1990, S. 163.
** Jürgen Habermas, Vergangenheit als Zukunft, Zürich 1990.
*** Vgl. Manfred Wilke, „DKP und PDS nach dem Ende des deutschen Kommunismus“, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus und Demokratie 3 (1991), S. 147-58.
**** Dies gilt auch für weite Teile der bundesdeutschen DDR-Forschung. Vgl. dazu kritisch: Eckhard Jesse, „Wie man eine Schimäre zum Leben erweckt,“ Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. August 1990; Konrad Löw, „Die bundesdeutsche politikwissenschaftliche DDR-Forschung und die Revolution in der DDR“, Zeitschrift für Politik 38 (1991), S. 237-254.

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