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Die roten Socken (24. Juni 1994)

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Zwar ist die PDS, wie Westdemokraten und Bürgerbewegte pausenlos mahnend in Erinnerung rufen, die Nachfolgeorganisation der unseligen SED. Mit der Umbenennung nach einer Neugründung hatte Gysi seinen Genossen vor allem das Vermögen der einstigen Einheitspartei sichern wollen – inzwischen hat die Treuhand die Kontrolle darüber. Aber zum Nachlaß gehört nicht nur die drückende Schuld, sondern auch ein Stück politische Kultur der Arbeiterbewegung, die im Osten lebendig ist wie nirgends sonst in Deutschland: Zusammenhalt unter Arbeitskollegen und Nachbarn, Engagement füreinander und die gemeinsame Sache, Pflichtgefühl, Mitgefühl.

Die SED hatte die alte Arbeiterkultur einst mit ihrer straffen Parteiorganisation erst kanalisiert, dann paralysiert. Wer werktätig war und zugleich Parteimitglied, gehörte einer Betriebsparteiorganisation an. Rentner, Hausfrauen, Arbeitsunfähige und andere Stubenhocker waren in ihrem Wohngebiet in der entsprechenden Wohnparteiorganisation eingebunden.

Als die DDR 1990 kollabiert war, sorgten die Sekretäre der neuen PDS dafür, daß die verbliebenen Parteigenossen aus den bedrohten Betriebs- in die Wohnparteiorganisationen wechselten. So entstanden die neuen Basisgruppen, die heute das Rückgrat der Partei bilden. In rund 12 000 Basisgruppen sind die 131 000 PDS-Mitglieder organisiert.

Die Gruppen treffen sich mindestens einmal im Monat. Auf dem Programm stehen Dichterlesungen, Diskussionen mit der Parteiführung, Vorträge zur Geschichte und Theorie des Sozialismus und immer wieder Streitgespräche über die SED-Vergangenheit. Vielen Parteimitgliedern ist die Basisgruppe zur Stütze in einer Umgebung voller Kränkungen geworden, sie schirmt ab gegen den kalten Wind aus dem Westen.

Um die Parteigruppen ranken sich ganze Nachbarschaftsinitiativen, die Lebenshilfe geben: Rentenanträge und Wohngeldformulare ausfüllen, sich gemeinsam gegen unberechtigte Nebenkostenerhöhungen wehren, bedrohte Kindertagesstätten verteidigen, Räume suchen für kleine, finanzschwache Galerien, Maifeiern organisieren.

So ist die PDS Nachfolgepartei der SED, doch in einem ganz anderen Sinne als Westler argwöhnen: Nicht weil die neue Partei sich das gesamte Vermögen der alten hätte sichern können und ominöse Seilschaften weiter am Werke wären. Nein, es sind die Basisstrukturen der Ostpartei, die vielleicht erst jetzt, nach der Befreiung vom Zentralismus und der Einführung freier Wahlen, richtig aufleben.

Die PDSler von heute sehen sich als der kritische Teil der alten SED, der schon damals nicht einverstanden war mit dem Realsozialismus des Honecker-Regimes; jener Teil der Partei, der auf Gorbatschow und die Perestrojka hoffte. André Brie, Wahlkampfleiter der PDS in Berlin, sagt es so: „Es gab ein großes Kritikpotential in der SED. Zur Hälfte ist die PDS von solchen Leuten geprägt. Die andere Hälfte ist eine große Selbsthilfeorganisation.“ Man kann die Zahlen so oder so nehmen: Neunzig Prozent der PDS-Mitglieder waren auch schon in der SED, aber die heutigen PDS-Mitglieder machen nur sechs Prozent der ehemaligen Parteigenossen aus.

Wer eine Parteiversammlung besucht, wird lange nach einem Gesicht ohne Falten ausschauen müssen. Die PDS ist die Partei der rüstigen Rentner. 1991, als die Parteidaten zuletzt ausgewertet wurden, waren gerade 9 Prozent der Mitglieder unter dreißig Jahre alt, aber 48 Prozent, jeder zweite, befanden sich im Ruhestand. Das hat auch Vorteile. Die Rentner – viele sind Vorruheständler, die unter der Marktwirtschaft frühzeitig ihre Arbeit verloren – haben viel Zeit. Sie haben Wut im Bauch und den Willen, es dem Kapital noch einmal zu zeigen.

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