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Stimmen aus der Provinz (4. August 1990)

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Die vormals allgegenwärtige SED-Propaganda ist nun eine Sache für Spurensucher der Zeitgeschichte. Aber auch der schwarz-rot-goldene Überschwang „Deutschland einig Vaterland“, als im Winter und im Frühling an vielen Häusern zwischen Eisenach und Leipzig die Nationalfahne ohne das DDR-Emblem gehißt wurde, ist dahin. Alltags- und Katerstimmung sind eingekehrt. Nun verbinden sich Emotionen, Sorgen und Selbstgefühl der Deutschen in der DDR mit der Zugehörigkeit zum je eigenen Land. „Die“ in Ost-Berlin hätten längst die Länder einrichten sollen, hört man immer wieder. Bevor es soweit ist und der Volkskammerbeschluß zur Wiedererrichtung der Länder mit den Landtagswahlen im Oktober verwirklicht wird, haben viele zur Selbsthilfe gegriffen. In Mühlberg, einem Dorf in den Vorbergen des Thüringer Waldes, haben die Einwohner ihren etwas merkwürdigen Ruf bei den Nachbarn wettgemacht. Die „Mühlberger Halblangen“, die stolz darauf sind, eines der ältesten Dörfer Thüringens zu bewohnen, sind den anderen vorausgeeilt und haben auf ihrem Ortsschild, die Erinnerung an die bei deutschen Diktatoren übliche Zerschlagung der Länder in Deutschland getilgt. „Der Bezirk Erfurt“ ist sauber überpinselt und durch „Land Thüringen“ ersetzt worden. Das kann man auch in anderen Dörfern beobachten.

Auf dem Weg von Halle nach Mühlhausen demonstrieren die Thüringer, die 1952 gegen ihren Willen zum Bezirk Halle und damit nach Sachsen-Anhalt kamen, auf ihren Ortstafeln: „Wir sind Thüringer.“ Man weiß nicht, was die russischen Offiziere davon halten, die eine Kolonne von Tankwagen über die Straßen führen. Denken sie an die Auflösung der Sowjetunion in ihre Völker und Stämme? Ein Mann aus Halle steigt bei jedem erzwungenen Halt aus seinem Wagen und ballt die Fäuste. Auch das wäre „früher“ undenkbar gewesen.

An den Wegrändern der endlosen Felder der goldenen Aue spürt man wenig von der ökologischen Katastrophe der DDR. Es gibt nicht nur Buna und Bitterfeld, Aue und Greifswald. In Erfurt liegen liebevolle „Rekonstruktion“ und Verfall nach wie vor Straße an Straße, aber die Zeichen des Wiederaufbaus mehren sich. An zwei alten Häusern prangt das Wappen von Rheinland-Pfalz, das hier restauriert, eingedenk des alten Spruches: „Erfurt und Mainz sind eins.“ Im Erfurter Land blühen gelber Rainfarn, weiße Schafgarbe und Storchschnäbel in blau und rosé, Zichorien und Flockenblumen in Hülle und Fülle. Auf dem Weg nach Bad Frankenhausen bremsen wir im Dorf Ringleber und sind glücklich über einen Stillstand der Zeit. Auf einem Haus stehen schon wieder oder noch immer zwei stolze Störche.



Quelle: Helmut Herles, „Thüringen erinnert mich an die Toskana“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. August 1990. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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