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Privatisierung einer Volksbuchhandlung (ca. 1993)

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Beispielsweise, als die Volksbuchhandlung dem Volk zur Privatisierung angeboten worden ist. »Aber ich konnte mir trotz aller Phantasie damals nicht vorstellen, daß in unserem Laden keine Bücher, sondern vielleicht Matratzen oder Kochtöpfe oder Hamburger verkauft und wir sechs Buchhändlerinnen keine neue Arbeit finden würden. Also meldete ich mich bei der Gebäudewirtschaft und sagte: »Ich werde einen Kredit nehmen und die Buchhandlung pachten!« Doch damals hatte ein Wessi schon Ansprüche angemeldet, und einen Kredit konnte ich nur bekommen, wenn er mir einen langfristigen Mietvertrag gewährte. Ich nahm all mein bißchen Mut zusammen und fuhr mit dem Trabi zu ihm nach Köln. Und der schickte mir eine Woche später wirklich einen Zehn-Jahres-Mietvertrag, und ich erhielt den Kredit und pachtete unsere Buchhandlung! Doch als ich schon das erste Geld für die Renovierung ausgegeben hatte, schrieb er mir noch einen Brief. Und teilte mit, daß er andere Pläne hätte, er nähme seine Zusage zurück. Danach mußte ich den Käufern, die er herschickte, das Haus zeigen. Ein Türke wollte ein Döner-Restaurant daraus machen. [ . . . ]

In letzter Not, damals war ich wirklich reif für die Psychiatrie, hat mir die Gebäudewirtschaft, ihr gehörte das Haus trotz des Westanspruchs ja noch, einen unkündbaren Zwölf-Jahres-Mietvertrag für die Buchhandlung gewährt. Egal, wer das Haus kauft.«

Nach dem Mietvertrags- und Kreditkrimi hätte sie angenommen, das Schlimmste sei vorbei. Aber dann wäre die Nacht vom 30. April zum 1. Mai gekommen. »Da bin ich abends als Buchhandels-Halbtagskraft ins Bett, daß heißt, ich bin in der Nacht überhaupt nicht ins Bett gegangen – und am Morgen, am Kampftag der Werktätigen, als Unternehmerin aufgestanden. Plötzlich war ich die Chefin der fünf Kolleginnen geworden, mit denen ich jahrelang zusammen gearbeitet hatte, während der Arbeitszeit einkaufen gegangen war, zum Arzt, Kaffee gekocht. [ . . . ] Doch nun kostete es plötzlich mein Geld, wenn eine von ihnen wie früher während der Arbeitszeit Kaffee kochte oder zu lange Pause machte. Vor einigen Wochen mußte ich das einer Kollegin sehr deutlich sagen. Ich saß mit ihr hinten im Büro, schimpfte, bis sie plötzlich heulte. Sie heulte so gottserbärmlich, daß ich blöde Gans plötzlich mitheulen mußte. Ich, die Unternehmerin!«



Quelle: Landolf Scherzer, Der Zweite. © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1997
(die Originalausgabe erschien 1997 im Aufbau-Verlag; Aufbau ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG)

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